Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
kam sein Vater ins Zimmer und berichtete, dass die Mobilmachung begonnen hatte. Da fügte Kresten in aller Eile ganz unten auf der letzten weißen Manuskriptseite einige Zeilen hinzu: «Ach, gnade uns Gott, die wir mitmüssen, und wer weiß, wann wir zurückkommen!»
Andresen trägt die deutsche Uniform jetzt seit sieben Wochen. Als er in die überfüllte Kaserne in Flensburg einrückte, erfuhr er, dass sie vier Wochen ausgebildet und dann nach Frankreich geschickt werden sollen. In derselben Nacht hörte er, wie ein zum Kampf ausgerüstetes Bataillon abmarschierte, wobei es «Die Wacht am Rhein» sang. Dann folgten Tage scheinbar endlosen Exerzierens in sengender Hitze. Andresen hat sich besser zurechtgefunden, als er zu hoffen gewagt hatte. Zwar dienen nur wenige Dänen in seiner Kompanie, aber er fühlt sich trotzdem nicht wie ein Außenseiter. Gewiss gibt es Schinder unter den Unteroffizieren, die aber in der Regel von den Offizieren klein gehalten werden. Doch ihm macht zu schaffen, dass nicht einmal in der Freizeit über etwas anderes als «Krieg und wieder Krieg» gesprochen wird, sodass sogar er sich an den Gedanken gewöhnt hat. Er schießt recht gut. Seine erste Serie waren zwei Zehner und ein Siebener.
Inzwischen sind mehrere Kontingente abmarschiert, singend, einem ungewissen Schicksal entgegen. Dass Andresen noch in der Kaserne ist, liegt zum Teil an etwas so Banalem wie fehlender Ausrüstung, teils daran, dass zuerst die Freiwilligen abrücken. Als sich die Kompanie heute nach dem Unterricht aufstellt, wird es klar und deutlich gesagt: Ein neues Kontingent soll umgehend an die Front geschickt werden. Wer meldet sich freiwillig?
Alle heben die Hände, bis auf drei. Andresen ist einer von ihnen. Man fragt ihn nach dem Grund, lässt ihn dann aber in Ruhe. Gemeinsam mit einem anderen Dänen besucht er später einen Freund, und sie verspeisen «in großer Andacht» ein Huhn, das ihm seine Mutter geschickt hat. Am Abend schreibt Andresen in sein Tagebuch:
Man ist so betäubt, dass man ruhig in den Krieg zieht, ohne Tränen und ohne Angst, und doch wissen wir alle, dass wir auf dem Weg in die reine Hölle sind. Aber in einer steifen Uniform schlägt das Herz nicht, wie es will. Man ist nicht man selbst, kaum noch ein Mensch, höchstens ein gut funktionierender Automat, der alles ohne viel Nachdenken tut. Ach, Herr Gott, könnte man doch wieder Mensch sein!
Das schöne und warme Spätsommerwetter, das seit dem Kriegsausbruch geherrscht hat, ist jetzt den Herbstwinden gewichen. Ein kräftiger und kalter Nordwest zieht über Flensburg hinweg. Das Laub rauscht. Die Kastanien regnen aus den Bäumen.
9.
Sonntag, 4. Oktober 1914
Andrej Lobanov-Rostovskij nimmt an der Schlacht bei Opatów teil
In der grauen Dämmerung eröffnet die Artillerie wieder das Feuer. Andrej Lobanov-Rostovskij erwacht sofort von dem rollenden, schwingenden Dröhnen, ein bisschen betäubt von Müdigkeit, denn er hat nur ein paar Stunden geschlafen. Er richtet sich taumelnd auf. Von der Anhöhe aus, auf der sie in der Nacht kampiert haben, sieht er in der Ferne weiße Explosionswolken aufblühen. Er beobachtet, wie sie sich über die flachen Hügel im Süden und Westen ausbreiten. Er sieht die von Blitzen durchzuckten Rauchschwaden weiterziehen, unerbittlich wie ein Lavastrom. Er verfolgt, wie sich die Feuerwalze der Stadt nähert; er sieht, wie sie auftrifft. Zivilisten rennen dort unten in Panik durch die Straßen. Schließlich wird Opatów fast ganz verschluckt vom Rauch detonierender Granaten und brennender Häuser. Am Ende ist nur noch ein Kirchturm zu sehen, der aus den wallenden Schwaden aufragt.
Das Artilleriefeuer wird heftiger. Mächtige Geräuschwellen schlagen von beiden Seiten über ihnen zusammen: Detonationen von Granaten, Krachen von Gewehrschüssen, Knattern von Maschinengewehren. Sie sehen nicht viel und sind selbst nicht betroffen, aber nach dem Kampflärm zu urteilen, tobt jetzt eine Schlacht «in einem Halbkreis um uns herum». Die Kompanie steht immer noch oben auf der Anhöhe, entsprechend dem Befehl «Bleibt, wo ihr seid, und wartet auf Instruktionen». Um elf Uhr treffen neue Instruktionen ein. Man soll sich ein Stück zurückziehen.
Nach einer halben Stunde blickt Lobanov-Rostovskij sich um. Am Oktoberhimmel sieht er einen mächtigen Rauchpilz. Opatów wird von den Flammen verzehrt. Und nicht nur Opatów: Alle Dörfer auf beiden Seiten stehen jetzt in Flammen. Sie haben immer mehr Mühe, auf der
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