Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
Explosionen und die brennenden Häuser kümmern sie nicht mehr, sie denken kaum daran, dass sie verfolgt werden und jeden Augenblick angegriffen werden könnten. Sich auszuruhen hilft auch nicht, denn wenn man nach dem kurzen, abrupten Schlaf (auf der Erde, im Schnee) erwacht, fühlt man sich nur umso betäubter, umso verzweifelter vor Erschöpfung.
Die ganze Nacht gehen sie durch den Wald, einer blassen und kalten Morgendämmerung entgegen.
Als sie die eigenen Linien erreichen, ist die Sonne schon aufgegangen. Zwei Wachtposten versuchen sie aufzuhalten, verlangen das Losungswort. Die ausgepumpten Männer überschütten die Wachtposten mit Flüchen und stolpern an ihnen vorbei. Etwas weiter entfernt stoßen sie auf Männer aus anderen Kompanien, anderen Bataillonen: ein Wirrwarr von Soldaten, Wagen und unruhigen Mauleseln, «der harte Klang beschlagener Hufe auf Stein». Dünner Regen fällt.
Endlich Ruhe. Monelli kriecht in ein kleines Zelt. Er schläft mit geballten Fäusten ein. Im Traum marschiert er weiter, der Marsch nimmt kein Ende.
***
Am gleichen Tag geht für René Arnaud und sein Bataillon in der Stadt Belval-en-Argonne das Warten weiter. Sie können das Geräusch der Kanonen drüben bei Verdun genau hören. Die Nervosität ist groß, denn sie ahnen, dass ihr Einsatz in der großen Schlacht bevorsteht. An der Front sein, wenn sie ruhig ist, ist zwar gefährlich, aber selten fatal – manchmal bietet sich die Gelegenheit zu einer Attacke, aber meistens sind es die Briten, die sie ergreifen. Im Rahmen einer großen Offensive an die Front beordert zu werden, ist dagegen etwas ganz anderes. Hier wird es zweifellos Verluste geben, große Verluste:
Wir stapften umher, tauschten Gerüchte aus und diskutierten. Ich erinnere mich immer noch an den Bataillonsarzt Truchet, der gebeugt dastand, mit gespreizten Beinen und rastloser Miene, während er mit der linken Hand nervöser denn je an seinem schwarzen Bart kratzte: «Dies ist eine Schande! Man sollte dieses Schlachten beenden! Man lässt Tausende von Männern massakrieren, um eine Reihe ausgedienter, alter Forts zu verteidigen. Das ist grauenhaft! Ah, schöne Generäle haben wir.»
97.
Dienstag, 30. Mai 1916
René Arnaud erreicht die vorderste Linie auf Höhe 321 bei Verdun
«Im Krieg tritt die stärkste mentale Belastung in dem Moment ein, wo die Gedanken sich selbständig machen und dem vorgreifen, was man noch nicht getan oder erlebt hat», berichtet René Arnaud,
wenn die Phantasie die Möglichkeit erhält, sich die lauernden Gefahren vorzustellen – und sie hundertfach verstärkt. Es ist allgemein bekannt, dass die Angst, die der Gedanke an eine Gefahr hervorruft, nervenaufreibender ist als die Begegnung mit der Gefahr selbst, genauso wie die Begierde berauschender ist als ihre Befriedigung.
Die große Schlacht ist nahezu ohne Unterbrechung seit Ende Februar im Gange, als die deutsche Armee ihre sorgfältig vorbereitete Offensive einleitete. Arnaud und seine Männer wissen natürlich, dass früher oder später auch sie an der Reihe sind, 26 dass auch sie La Voie Sacrée hinauffahren werden, die Heilige Straße, wie der einzige Zufahrtsweg genannt wird, auf dem dieser Frontabschnitt versorgt werden kann, und auf dem im Durchschnitt alle vierzehn Sekunden ein neuer Lkw vorbeifährt. Die Bezeichnung geht auf einen Einfall eines bekannten nationalistischen Politikers zurück, Maurice Barrès, und sie hat Anklang gefunden. Vielleicht weil sie «an die Via Dolorosa, den ‹Weg des Leidens›, erinnert, und weil sie damit die Leiden und Opfer der Soldaten bei Verdun mit dem Gang Christi zur Kreuzigung nach Golgatha zu vergleichen scheint». 27
So empfanden es auch diejenigen, die den Marschbefehl nach Verdun erhielten – als einen Opfergang. Ein kürzlich aus Verdun zurückgekehrter Offizier hat es offen ausgesprochen: «Das Ganze ist sehr einfach. Ihr werdet abgelöst, wenn zwei Drittel eurer Mannschaft außer Gefecht gesetzt sind. Das ist die übliche Quote.»
Arnaud und der Rest des Bataillons haben den Tag in Verdun im Inneren der Zitadelle aus dem 17. Jahrhundert verbracht, einem gewaltigen Komplex von Stabsräumen, Lagern, endlosen Korridoren, unterirdischen Kasematten, bombensicheren Unterkünften. In der Luft hängt ein warmer Geruch von Kohl, schimmeligem Brot und Desinfektionsmittel, Schweiß und saurem Wein. Durch die kleinen Schießscharten in den meterdicken Mauern dringt das Geräusch ferner Granatexplosionen wie ein
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