Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
der Mann, der sich weigert, seinen Freund anzuzeigen. Herr Haensch hört Elfriedes Kommentar und ruft: «Na, hör mal, da gibt’s doch gar kein Schwanken. Natürlich der Unteroffizier. Wenn beim Militär der Gehorsam aufhört, dann ist das doch – dann ist das Rebellion.» In seiner Wut gibt Herr Haensch Elfriede einen heftigen Klaps auf den Hintern und wirft sie hinaus.
Betrübt und verwirrt geht Elfriede nach Hause. Eigentlich kann sie beide verstehen, den schneidigen jungen Mann, der seinen Freund nicht verraten will, aber auch den Unteroffizier, der nur seine Pflicht tut:
Am allermeisten war ich über mich selber traurig. Nie kann ich genau unterscheiden, was in diesem Krieg Recht und was Unrecht ist. Ich schreie hurra über unsere Siege und bin außer mir, weil es Tote und Verwundete gibt. Gestern hörte ich, dass es, ganz im Wald versteckt, ein Lazarett geben soll, in dem Soldaten mit weggeschossenen Gesichtern leben. Sie sollen so furchtbar aussehen, dass normale Menschen sie nicht ansehen können. So was bringt mich zur Verzweiflung. 22
Heute wird Elfriede vierzehn Jahre alt. Sie trägt ihr Haar jetzt etwas anders, erwachsener.
***
In derselben Nacht wird in Kut al-Amara ein letzter Versuch unternommen, Nachschub in die belagerte britische Garnison zu bringen. Ein Flussboot, mit Eisenblech verkleidet, beladen mit Proviant und bemannt mit einer Besatzung aus Freiwilligen – alles Junggesellen –, hat sich im Schutze der Dunkelheit den Tigris hinaufgeschlichen, um an den osmanischen Linien vorbei zu den Eingeschlossenen vorzudringen. Das Boot, die Julnar , wird jedoch entdeckt und von allen Seiten beschossen. Schließlich kentert es. Edward Mousley schreibt in sein Tagebuch:
Aus nur wenigen Metern Entfernung wurde es von türkischen Geschützen beschossen. Die Offiziere wurden getötet, Leutnant Crowley [sic] 23 wurde gefangen genommen, und dann wurde das Boot in Sichtweite unserer Männer gebracht, die es bei der Festung eigentlich entladen wollten, und auch in Sichtweite der traurigen Reste der Garnison, die das Ganze von den Hausdächern in Kut aus beobachteten. Dort liegt das Boot jetzt. Dies scheint das tragische, aber nicht unerwartete Ende des grandiosen Versuches zu sein, der unsere letzte Hoffnung war. Unsere Lebensmittel reichen kaum noch bis morgen.
***
In dieser Zeit schreibt Herbert Sulzbach in sein Tagebuch:
Ostern 1916 verlebe ich also zu Haus, und so sehr ich diese Urlaubstage genieße – ich habe eine gewisse Sehnsucht nach der Front und eine Unruhe, die mich zu meiner Batterie hinzieht. Die Erinnerungen zu Haus an das, was einstmals Frieden hieß, stimmen auch sentimental, und so etwas kann man nicht gebrauchen.
94.
Sonntag, 7. Mai 1916
Kresten Andresen und das faule Leben in Montigny
Frühsommergrün. Frühsommerwarm. Vogelgesang. Jetzt ist es die Zeitverschwendung, die ihn am meisten ärgert, dass die Tage dahingehen, der eine dem anderen gleich, und nichts passiert, was nicht schon vorher passiert wäre, dieselbe Routine, dieselben Worte. Er ist außerdem erschrocken, wie vergesslich er geworden ist. All das, was er früher gelesen hat – Geschichte, Literaturgeschichte –, scheint aus dem Gedächtnis verschwunden. Kaum hat er ein Buch beiseite gelegt, hat er es auch schon wieder vergessen. Wie üblich verfolgt er aufmerksam jedes kleine Gerücht über einen bevorstehenden Frieden, obwohl er schon so oft enttäuscht wurde. Die Front ist völlig ruhig, und darüber ist er froh.
An diesem Tag schreibt Andresen einen Brief nach Hause:
Liebe Eltern!
Am selben Tag, an dem ich Euch zuletzt von hier aus einen Brief geschickt habe, bin ich gestürzt und habe mir das oberste Glied des linken Mittelfingers gestaucht, wie Euch Misse vielleicht schon erzählt hat. Der Transport, mit dem ich fahren sollte, ist jetzt weg. Aber in einer Woche ist der Finger sicher wieder hergestellt. Er wurde nämlich sofort gerichtet. Ich laufe umher und genieße das Leben und die Natur. Meine Waschfrau hat mir einen guten französischen Roman geliehen, und wenn ich müde bin vom Lesen, setze ich mich hin und zeichne. Ich habe vor, Euch ein paar Zeichnungen zu schicken, eine habe ich an Tante Dorothea geschickt. Nicht weil sie viel wert wären, man taugt ja überhaupt zu nichts mehr, denn das Leben hier ist so unendlich abstumpfend. Ich weiß nicht, was man dagegen tun kann. Aber ich glaube tatsächlich, der Zustand hat zum Teil damit zu tun, dass man nie was anderes [zu
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