Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
ist umso bitterer, als uns das Gefühl einer Katastrophe gepackt hat».
Gegen Mittag klettert Monelli zu der Höhle hinauf, in der der Bataillonsstab untergebracht ist. Am Eingang trifft er den Bataillonskommandeur, einen Major, dessen Augen gerötet sind vom Schlafmangel. Der Major zwirbelt seinen Bart. Er ist betrunken. «Komm her», sagt er zu Monelli. «Hast du gebeichtet? Heute Abend werden wir eingeschlossen sein.» Der Major hat den Befehl bekommen, die Position zu halten. «Und wir werden standhalten, und dann wird man uns gefangen nehmen. Und wir ernten die Schuld und den Spott.»
Der Wein tut das seine. (Der Major nennt ihn «einen Freund, der uns nie im Stich lässt».) Leicht angetrunken beginnt Monelli die Lage ein wenig optimistischer zu sehen. In einigen Stunden ist es Abend. Vielleicht schaffen sie es, zu entkommen. Und falls der Feind vorher angreift, wird die Kompanie versuchen, irgendwie Zeit zu gewinnen – «und dann schafft die Division es vielleicht, ihren Papierkram in Sicherheit zu bringen».
Das Wunder tritt ein. Niemand greift sie an.
Als die Dunkelheit hereinbricht, bewegen sie sich in kleinen Gruppen bergab, in den Wald.
Kalter Regen fällt. In der Nähe brennt ein Dorf, und im Widerschein des Feuers sind die Konturen von Bäumen und Felsen verzerrt. Sie überqueren den Fluss, eine halbe Stunde bevor die Brücke gesprengt werden soll. Auf der anderen Seite machen sie eine kurze Pause, trinken Wasser (die Metallbecher schlagen klirrend gegen die Steine im Fluss), essen Zwieback. Bevor sie zum nächsten Höhenkamm weiterziehen, begraben sie den letzten Gefallenen des Tages. Sein Name ist Giovanni Panato. Beim Klettern wurde er vom Splitter einer wahllos abgefeuerten Granate getroffen. So ist es hier oft: zufällige Ursache, verheerende Wirkung. Panato schrie auf, als er getroffen wurde, kroch aber weiter und brach am Ende tot zusammen.
Als sie ihre Sachen packen (die Metallbecher klirren, als sie wieder in die Rucksäcke gestopft werden), kommen die Fragen der Soldaten. Warum Rückzug? Warum bleiben wir nicht und kämpfen? Monelli fällt es schwer, Antworten zu finden.
Aber was wissen sie, was weiß ich über das, was geschieht? Nichts. Man kämpft, man marschiert, man macht halt, nur eine Nummer in der Masse, die sich vorwärts wälzt, die an dieser gebirgigen Front zwischen den Gletschern in den gewaltigen Dolomiten manövriert – und im Herzen ein dumpfer Groll, ein quälendes Gefühl, nichts zu wissen, nichts zu sehen.
Zur gleichen Zeit, in einem entlegenen Schloss mit weichen Teppichen, befinden sich diejenigen, die Monelli «die geheimnisvollen Götter» nennt, «die unsere Schicksalsfäden spinnen», mit anderen Worten «ein Offizier, der schreibt, ein Kontorist, der kopiert, ein Adjutant, der den Raum verlässt, ein Oberst, der flucht».
Das ist der Krieg. Nicht die Gefahr zu sterben, nicht das rote Feuerwerk der Granaten, die blind machen, wenn sie mit einem Heulen herunterkommen und einschlagen (Quando si leva che intorno si mira – tutto smarrito della grande angoscia 24 ), sondern das Gefühl, eine Marionette in den Händen eines unbekannten Puppenspielers zu sein, und dieses Gefühl lässt zuweilen das Herz erkalten, als habe der Tod schon zugegriffen. An den Schützengraben gefesselt, bis der Ablösungsbefehl eintrifft, ebenso plötzlich wie ein Kanonenschuss oder ein Schneesturm, gebunden an die stets gegenwärtige Gefahr, an ein Schicksal, das mit der Nummer deines Zugs oder dem Namen deines Schützengrabens versehen ist, ohne die Möglichkeit, dein Hemd auszuziehen, wenn du es willst, ohne die Möglichkeit, nach Hause zu schreiben, wann du willst, die bescheidensten Lebensbedürfnisse reglementiert zu sehen, die du nicht beeinflussen kannst – das ist Krieg. 25
Im Dunkeln geht es weiter, wieder bergauf. Die Schritte werden schwer im Schneematsch. Er sieht wieder ein brennendes Dorf. Hinter sich hört er Gewehrfeuer und Explosionen. Es ist die Nachhut, oder eher die Nachhut der Nachhut, die angegriffen wird – das sind der arme de Pèrigine und seine Männer.
Das Vorankommen wird immer schwerer, stolpernder, die Schritte werden immer mechanischer. Nach einer Weile haben sie nicht einmal mehr die Kraft zu klagen. Monelli und die anderen konnten mehrere Nächte nicht ordentlich schlafen, die Müdigkeit ist quälend, sie wirkt beinahe narkotisierend. Sie lassen die Welt um sich herum langsam vorübergleiten, sie verliert ihre Bedeutung; die
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