Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
vertrockneten. Bewaffnete Araber haben ihnen aufgelauert, um die Nachzügler auszuplündern oder zu töten. Sie werden von Sandstürmen, Hitze, Hunger und vor allem von Durst gequält. Sie müssen von Feigen, schwarzem Brot, Tee und nicht zuletzt Rosinen leben, die sie zu überhöhten Preisen auf dem Weg gekauft haben. Genau wie die anderen hat Mousley sein Zeitgefühl weitgehend verloren. «Ich kannte nur zwei Zustände», schreibt er in sein Tagebuch, «zu gehen oder nicht zu gehen.» Er ist schwach und hat Fieber. Er hat ungefähr zwölf Kilo abgenommen und quält sich mit schweren Magenproblemen und Augenschmerzen. 39
Jetzt haben sie die kleine Stadt Nusaybin erreicht. Sie sollen dort nur eine Nacht oder zwei bleiben und dann ihren Marsch nach Ras al-Ayn fortsetzen, von wo es mit dem Zug weitergehen soll. Im Schatten einer alten römischen Brücke schlagen sie das Lager auf. Wolkenlos und glühend wölbt sich der Himmel über ihnen, und Mousley ist noch schwächer als sonst. Er hat sich gerade von einem schweren Sonnenstich erholt. Gestern kam ihm nämlich sein topee , sein Tropenhelm aus Kork, in einem heftigen Sandsturm abhanden, und das Handtuch, das er sich um den Kopf gewickelt hat, half wenig.
Er erfährt, dass es irgendwo in der Stadt eine Sammelstelle für kranke Gefangene gibt, und dass dort gerade ein britischer Leutnant gestorben ist. Mousley will versuchen, das topee des Toten zu ergattern – der Mann wird dafür kaum noch Verwendung haben. Lange sucht er «in engen Straßen, dunklen Vierteln und Hinterhöfen». Schließlich findet er die Sammelstelle. Er geht durch ein kleines Mauerportal, das mit einem Teppich verhängt ist, und erreicht einen offenen Hof.
Entlang den Innenmauern, unter Sonnenschirmen aus Zweigen, die mit Gras und Blättern bedeckt sind, liegen zahlreiche ausgemergelte Menschen. Die meisten dieser skelettgleichen Gestalten sind völlig nackt, bis auf Lendenschurze, und ihre eingefallenen Wangen sind von wochenalten Bärten bedeckt. Es sind britische Soldaten aus Kut al-Amara. Sie haben kaum Essen bekommen, nur schwarzen Zwieback. Wasser haben sie von einem knapp zweihundert Meter entfernten Wasserlauf selbst holen müssen. Im Staub und im Sand sieht man die langen Schleifspuren.
Einige sind tot, nicht wenige liegen im Sterben. 40 Er sieht einen Mann mit herabgefallenem Kiefer, dessen Gesicht von Insekten bedeckt ist, und glaubt zuerst, er sei tot. Aber der Mann lebt, und als er sich bewegt, fliegen ganze Schwärme aufgeschreckter Fliegen aus seinem offenen Mund. Mousley hat schon früher einmal gesehen, wie sich die Münder von Sterbenden im Takt mit Fliegen füllen und wieder leeren. Er nennt es «das Bienenkorb-Phänomen».
Mousley sucht nach dem toten Leutnant. Er findet den Tropenhelm, nimmt ihn. Danach alarmiert er die übrigen Offiziere, und sie suchen den Kommandanten der Stadt auf, um zu protestieren. Sie nehmen alle Soldaten mit, die sich noch rühren können, und sammeln Geld für diejenigen, denen es so schlecht geht, dass sie nicht mehr marschfähig sind. So kommen sechzig Pfund zusammen, die sie diesen Unglücklichen überlassen, damit sie sich wenigstens etwas zu essen kaufen können.
Mousley kehrt zu der römischen Brücke zurück, wo er in sein Tagebuch schreibt:
Am Abend, als die gnadenlose Sonne untergegangen ist, gehen wir auf dem kleinen Gelände zwischen den Wachtposten auf und ab, rauchen den arabischen Tabak, den wir aufgetrieben haben, und blicken besorgt zum Horizont im Westen, denn irgendwo dort liegt Ras al-Ayn, der Eisenbahnendpunkt. Bis dahin sind es noch viele Märsche, nächte- und tagelang. Werden wir das schaffen?
102.
Dienstag, 27. Juni 1916
Florence Farmborough pflegt Verwundete in Bohacz
Heute geht die Brussilow-Offensive in die vierte Woche, und es gibt weiterhin gute, ja, erstaunlich gute Nachrichten. Die 9. Armee, zu der Florence Farmboroughs Einheit jetzt gehört, hat große Erfolge gefeiert: Sie hat ihre österreichisch-ungarischen Gegner zu einem panikartigen Rückzug veranlasst. 41 Florence und die anderen sind zufrieden. Die hohen Erwartungen, die sie in das neue Jahr und die viel beschworene große Offensive gesetzt hatten, haben sich tatsächlich erfüllt.
Es ist warm.
Florence hat viele Kriegsgefangene gesehen (was früher selten war), 42 hat die solide gebauten, aber zerschossenen feindlichen Schützengräben besucht und war gegen ihren Willen davon beeindruckt. Schließlich hat sie die Kehrseite des
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