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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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abgrenzt.
     
    Die drei zerteilen den Kadaver. Hamisi trägt den Hauptteil der blutigen Stücke, Buchanan und Gilham den Rest. Mit größter Vorsicht schleichen sie sich ins Lager zurück.
    An diesem Tag werden sie sich satt essen.
***
    Am gleichen Tag sind René Arnaud und seine Männer auf der Höhe 321 bei Verdun einem deutschen Infanterieangriff ausgesetzt. Das Artilleriefeuer lässt nach. Grau gekleidete Gestalten tauchen in der Kraterlandschaft vor ihnen auf:
     
Das Krachen von Schüssen und der Knoblauchduft des Pulverrauchs versetzten mich bald in eine Art Rausch. «Schießt die Schweine ab! Schießt!» Plötzlich sah ich einen großen Kerl, der sich vor mir nach rechts bewegte, ich zielte, ich hatte dieses intuitive Gefühl, das einen Schützen überkommt, der sein Ziel verfolgt, ich drückte ab, und während der Rückstoß meine Schulter traf, verschwand der große Körper. Später überlegte ich, ob es meine Kugel oder die eines anderen war, die ihn getroffen hatte, oder ob er sich ganz einfach in dem heftigen Gewehrfeuer auf den Boden geworfen hatte. Wie auch immer, er ist der erste Deutsche in dreieinhalb Jahren Krieg, den ich glaube, «erlegt»  34 zu haben – und dessen bin ich noch nicht einmal sicher.
     
    Der Angriff wird am Ende mit Hilfe von Handgranaten abgewehrt.

100.
    Samstag, 10. Juni 1916
    René Arnaud verlässt die vorderste Linie auf Höhe 321 bei Verdun
     
    Als die Nachricht Arnaud erreicht, ist ihm sein Zeitgefühl abhanden gekommen. Er weiß nicht, wie lange sie sich schon auf der breiten Anhöhe befinden. (Hinterher rechnet er aus, dass es zehn Tage gewesen sein müssen.) Es ist so viel Zeit vergangen und so viel passiert, dass Arnaud die Hoffnung auf Ablösung aufgegeben hat, ja überhaupt jede Hoffnung. Er ist nach Tagen und Nächten unter Beschuss und nach zwei abgewehrten Angriffen wie betäubt. Die Gefahr berührt ihn kaum noch, auch nicht der Anblick eines weiteren Gefallenen:
     
Diese Gleichgültigkeit ist vielleicht der beste Zustand für einen Menschen, der sich im Zentrum der Kämpfe befindet: aus Gewohnheit und Instinkt zu handeln, ohne Hoffnung und ohne Furcht. Diese lange Periode von überwältigend starken Gefühlen hatte schließlich damit geendet, dass das Gefühl selbst gestorben war.
     
    Für einen kurzen Moment begreift er nicht, warum die Männer, die ausgesucht wurden, um die Essenrationen zu holen, in der einbrechenden Dunkelheit mit leeren Händen zurückkommen. Aber sie geben schnell die Erklärung: «Wir gehen heute Nacht zurück.» Alle hüpfen vor Freude. «Wir gehen heute Nacht zurück!»
    Eins jedoch bleibt noch zu tun. Der Hauptmann, der sich die meiste Zeit im Cognacrausch befunden hat, taucht auf und befiehlt, dass sie alle Gefallenen in einem direkt hinter ihnen befindlichen halbfertigen Schützengraben zusammentragen, bevor sie die Stellung verlassen. Sie können ihre eigenen Toten nicht einfach hier liegen lassen, jetzt, da sie abgelöst werden. Die Soldaten murren, aber Arnaud überzeugt sie, dass sie es tun müssen.
    Im Schein der Signalraketen verrichten sie ihre unangenehme Arbeit. Körper um Körper wird auf ein Stück Persenning gehoben, das als behelfsmäßige Bahre dient, und dann zu dem improvisierten Grab geschleppt. Obwohl die Leichen schon «im Zerfall begriffen sind», erkennen sie jeden Einzelnen von ihnen: Bérard (wie so viele andere vom Beschuss durch das deutsche Maschinengewehr drüben bei Ravin de la Dame getötet, das ihre Stellung in Längsrichtung bestrichen hatte), Bonheure (der Melder, der den Wein so liebte), Mafieu (der Koch, der zur Strafe für Trunkenheit im Dienst zum Fußsoldaten degradiert wurde), Sergeant Vidal (mit seinem schwarzen Bart und seinen traurigen Augen, der vorgestern, als sie den deutschen Angriff abwehrten, von einem Schuss mitten in die Stirn getroffen wurde), Mallard (der aus der Vendée mit seinen schwarzen Haaren und blauen Augen, der verblutete, als ihm seine eigene Handgranate einen Fuß abriss), Jaud (Arnauds alter Korporal, sonnengegerbt, mit seinen sanften Kinderaugen und seinem grässlichen Bart), Ollivier (der tapfere, pflichttreue kleine Ollivier mit seinem glatten blonden Haar), Sergeant Cartelier (groß, schlank und jederzeit erkennbar an seinen besonders flachen Stiefeln, die er gegen jede Vorschrift trug) usw.  35
    Die Tage waren warm. Der Verwesungsgestank kommt in Wellen, während die Leichen aufgehoben und fortgetragen werden. Dann und wann müssen sie eine Pause einlegen und

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