Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
wird.
Genauso ist für Frankreich die Verteidigung von Verdun hauptsächlich ein symbolischer Akt, damit Generäle, Politiker, Journalisten erklären können: «Aber sicher, die Stadt ist gehalten worden, und wir werden sie weiter halten.» Doch niemand macht sich die Mühe, darüber nachzudenken, wofür dieses kleine Verb tenir , halten, eigentlich steht. Für die höchsten Generäle bedeutet «halten» nämlich etwas ganz anderes als für die chauvinistische Presse in Paris, und für die Befehlshaber vor Ort wieder etwas anderes, geschweige denn für die Infanteristen wie Arnaud und seine dreißig Männer. Die Tragik und Grausamkeit des Schlachtens ist also keineswegs nur Resultat der Zerstörungskraft der Kämpfenden. Sie ist auch das Ergebnis der rhetorischen Verirrung bei denen, für die die Schlacht ausgetragen wird.
In der vergangenen Woche haben die Deutschen einige der massivsten Angriffe seit Februar gestartet – mit großem Erfolg. Unter anderem ist ein weiterer wichtiger französischer Stützpunkt, das Fort Vaux, nach schweren Kämpfen gefallen. (Kurz nachdem Arnauds Bataillon dezimiert aus den Kämpfen zurückgezogen wird, werden die deutschen Angriffe wieder aufgenommen. Höhe 321 fällt am Ende.)
Später hört Arnaud das Pfeifen der Schmalspurbahn, die sich zwischen Verdun und Bar-le-Duc dahinschlängelt. Er begreift, dass er davongekommen ist:
Ich war vom Schafott des Leidens herabgestiegen und in eine Welt des Friedens und des Lebens zurückgekehrt. Ich dachte, ich sei noch derselbe Mensch, der ich war, bevor ich zehn Tage lang den Tod vor Augen hatte. Ich irrte mich. Ich hatte meine Jugend verloren.
***
Am gleichen Tag schreibt Florence Farmborough in ihr Tagebuch:
Es war ein heißer und ziemlich schwüler Tag. Am Morgen erbot sich Aleksandr Aleksandrowitsch, einer unserer Transportoffiziere, uns zu fahren, damit wir die verlassenen österreichischen Schützengräben sehen könnten. Wir nahmen sein Angebot mit Freuden an. Einer von ihnen übertraf alle übrigen an Luxus und Gemütlichkeit. Wir dachten, dass es der Schutzraum eines Artillerieoffiziers gewesen sein musste. Es gab dort Stühle und Tische, und an den befestigten Wänden fanden sich Bilder und Bücher, ja sogar eine englische Grammatik.
101.
Sonntag, 25. Juni 1916
Edward Mousley stiehlt einem Toten in Nusaybin den Tropenhelm
Der Marsch geht weiter. Es sind bald zwei Monate vergangen, seit die eingeschlossene britische Garnison in Kut al-Amara vor der osmanischen Armee kapituliert hat und rund 13 000 Mann in Gefangenschaft gerieten. 37 Trotz eines gegenteiligen Versprechens sind die Gefangenen geplündert und Mannschaften und Offiziere getrennt worden. Während die Offiziere für den weiteren Transport nach Bagdad auf Flussschiffe verladen wurden, mussten die Soldaten und Unteroffiziere die ganze Strecke marschieren, und dies, obwohl viele schon vorher in schlechter Verfassung waren und gerade die heißeste Jahreszeit eingesetzt hatte, mit Temperaturen bis zu 50 Grad im Schatten. 38
Mousley war krank, als die Kapitulation erfolgte, und musste deshalb auf einen besonderen Transport nach Bagdad warten. Das Schiff, das sie schließlich bestiegen, war ironischerweise die Julnar , jener Dampfer, der bei dem letzten verzweifelten Entsatzversuch Ende April zum Einsatz kam. Als Mousley an Bord getragen wurde, entdeckte er überall Einschusslöcher. Während der unendlich langsamen Fahrt machte das Schiff immer wieder halt, um die Leichen der Gestorbenen abzuladen.
In Bagdad kam er rechtzeitig zur nächsten Etappe wieder zu Kräften: Da russische Truppen weniger als zweihundert Kilometer nördlich der Stadt standen, war den osmanischen Befehlshabern sehr daran gelegen, die britischen Gefangenen rasch aus der Region fortzuschaffen, damit sie nicht bei einer eventuellen russischen Offensive befreit werden konnten. Zunächst wurden sie per Zug nach Samarra verfrachtet. Von dort mussten sie unter Bewachung zu Fuß weitermarschieren, zuerst den Tigris aufwärts bis Mosul, dann in westlicher Richtung durch die Wüste.
Die Kolonne von gefangenen Offizieren, der Mousley zu folgen hat, kann ihr Gepäck auf Esel und Kamele laden, und die Schwächsten dürfen reiten. Dennoch ist der Marsch kräftezehrend. Sie haben am Wegrand Kranke und Sterbende, kollabierte Esel und Ausrüstungsstücke zurückgelassen. Und sie haben die Spuren derer gesehen, die vor ihnen hier gegangen sind, Leichen, die in der sengenden Sonne
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