Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
Mitternacht.
Lobanov-Rostovskij und einige andere kriechen unter die aufgestellten Karren, um in ihrem Schutz zu schlafen. Anfangs geht es ganz gut, aber das Regenwasser findet bald einen Weg unter die Wagen. Den Rest der Nacht verbringen sie am Straßenrand sitzend, schweigend, wachend, fast tierhaft geduldig, und warten auf die Dämmerung.
10.
Dienstag, 6. Oktober 1914
Herbert Sulzbach liegt in einem Biwak vor Lille
Sie sind unrasiert und ein paar Tage nicht aus den Kleidern gekommen – sie tragen noch immer ihre blauen Friedensuniformen. Und sie haben noch keine Gelegenheit gehabt, die Pferde abzusatteln. Vor zwei Tagen erlebten sie ihre Feuertaufe. Drinnen in Lille. Es hätte schlimm ausgehen können.
Eine Fehleinschätzung oder auch eine Selbstüberschätzung veranlasste irgend jemanden, ihre Batterie, zusammen mit Infanteristen, direkt in die Stadt zu schicken. Der Geräuschpegel war unbeschreiblich und machte es fast unmöglich, sich untereinander durch Rufe zu verständigen. Die Luft war erfüllt von Brandrauch. Sie gerieten in einen Hinterhalt: Man konnte nicht erkennen, woher die Schüsse kamen. In den engen Straßen stießen verschiedene Verbände zusammen, es kam zu chaotischen Staus. Am Ende waren sie gezwungen, sich aus der Stadt zurückzuziehen. Erneute Versuche, sie zu erobern, misslangen.
Sie haben ihre ersten Toten und Verwundeten.
Jetzt sind sie aus der Kampflinie genommen worden und haben auf einer Wiese ein Biwak aufgeschlagen. Mit seinem Interesse an Menschen und seiner offenen Art hat Sulzbach schnell neue Freunde gefunden. Einer von ihnen ist ein großer und stiller Fahnenjunker im gleichen Alter, Kurt Reinhardt. Sie reden miteinander, während sie Wasser für die Pferde holen. Sie reden über alles. Nur nicht über den Tod.
Später brechen sie gemeinsam auf, um etwas Essbares und Trinkbares zu suchen. Sie erreichen ein verlassenes Herrenhaus. Der Ort bietet einen traurigen Anblick. Alles ist zerstört oder geplündert. Im Keller findet Sulzbach jedoch einige Flaschen edlen Wein. Mit ihrer Beute wandern sie zum Biwak zurück. Viele französische Weinkeller werden während der Kämpfe in diesem Herbst geplündert. Viele Kämpfe werden im Nebel ausgetragen, sei es im Nebel des Rausches oder im Nebel der Erschöpfung oder in beidem.
Sulzbach liegt zwischen zwei Pferden und schreibt Tagebuch. Er ist immer noch aufgewühlt von den Ereignissen vor zwei Tagen, sieht aber ein, dass es noch schlimmer hätte ausgehen können. Sie müssen froh sein, aus dieser schrecklichen Falle überhaupt entkommen zu sein. Ihn empört das Verhalten des Feindes, der nicht kämpft wie ein Mann, nein, «hinterlistig bombardierte er uns aus sicherem Versteck!». Aber er ist stolz, dass der Hauptmann ihn gelobt hat. Und er ist stolz, dabei zu sein, hier, wo so große Dinge geschehen. Er schreibt ins Tagebuch: «Man hat immer das Gefühl, dass es etwas Herrliches ist, einer von den Millionen zu sein, die mitkämpfen können, empfindet es als Notwendigkeit.»
Bald werden sie einen neuen Vorstoß gegen Lille unternehmen. Und in ein oder zwei Tagen werden sie die in den Kämpfen vom Sonntag Gefallenen begraben. Er singt viel. Die Nächte werden allmählich länger und kälter.
11.
Samstag, 10. Oktober 1914 16
Elfriede Kuhr hört Kriegsgeschichten bei einem Kaffeekränzchen in Schneidemühl
Herbstfarben. Oktoberhimmel. Kühle Luft. Der Lehrer bringt ein Nachrichtentelegramm zum Unterricht mit und liest vor: Vor zwei Tagen ist die Stadt Antwerpen gefallen, und jetzt hat auch die letzte Festung kapituliert, was bedeutet, dass die langwierige Belagerung vorbei ist und der deutsche Vormarsch entlang der Küste nach Flandern weitergehen kann. Die abschließenden Worte des Berichts kann Elfriede kaum verstehen, weil alle Kinder vor Freude aufschreien.
Das ist in ihrer Schule zum Ritual geworden, dieses laute Gebrüll, wenn ein neuer deutscher Triumph bekanntgegeben wird. Elfriede glaubt, dass viele nur deshalb brüllen, weil sie hoffen, dass der Sieg mit einem freien Tag gefeiert wird. Oder dass der Rektor, ein strenger großer Herr mit Kneifer und weißem Spitzbart, über ihren jugendlichen Patriotismus so entzückt ist, dass er ihnen zumindest die letzten Stunden erlässt. (Als der Kriegsausbruch in der Schule bekanntgegeben wurde, war der Rektor so ergriffen gewesen, dass er weinte. Er war es, der den Gebrauch ausländischer Wörter in der Schule verboten hat. Bei Übertretung drohen fünf Pfennig
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