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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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Schicksal ist unbekannt.  60

112.
    Sonntag, 13. August 1916
    Florence Farmborough besichtigt ein Schlachtfeld am Dnjestr
     
    Die Landschaft, die sich vor ihren Augen ausbreitet, ist atemberaubend schön. Auf beiden Seiten erstrecken sich lange, geschwungene Höhen, von Wald bedeckt; vor ihnen liegt eine hügelige Ebene, in der Ferne begrenzt von den hohen, dramatischen Gipfeln der Karpaten. Als die Kolonne näher kommt und den Ort erreicht, der gestern noch ein Schlachtfeld war, fällt die Idylle in sich zusammen. Sie passieren kürzlich verlassene Batteriestellungen; sie rollen durch Dörfer, von Granaten zerstört und vom Netz der Schützengräben zerrissen, von denen nur noch Stein- oder Holztrümmer übrig sind; sie fahren an geschwärzten Kraterfeldern vorbei. Die Größe eines Kraters ist abhängig vom Kaliber der eingeschlagenen Granate: Die übliche Granate der Feldartillerie von 7 bis 8   cm hinterlässt einen Krater von weniger als einem Meter Durchmesser, die Monstren von 42   cm reißen Löcher, die bis zu zwölfmal so groß sind.
    Auf einem Hügel machen sie halt. Gestern war hier eine der am besten befestigten Stellungen der österreichisch-ungarischen Verteidigungslinie. Zurückgeblieben ist nur ein Chaos aus verworrenem Stacheldraht und halb eingestürzten Schützengräben. Die gefallenen Feinde liegen noch da. Sie sind noch nicht lange tot und zeigen trotz der Sommerwärme keine Anzeichen von Verwesung, wirken im Gegenteil fast lebendig. In einem Schützengraben sieht sie drei gekrümmte Körper, und nur die verdrehten Gliedmaßen überzeugen sie davon, dass die Menschen wirklich tot sind. An einer anderen Stelle sieht sie einen feindlichen Soldaten ausgestreckt in einem zerschossenen Schützengraben liegen. Das Gesicht des Mannes ist völlig unberührt, seine Haut noch hell und lebendig. Florence denkt wie so viele andere vor ihr, die dem Tod in seiner weniger dramatischen Gestalt begegnen: «Es sah aus, als ob er ruhte.»
    Sie klettern auf ihre Wagen, und die Fahrt geht weiter. Bald begreifen sie das ganze Ausmaß der Kämpfe, die dem großen Durchbruch gestern vorausgegangen sind. Aus dem einen Schlachtfeld werden viele, und sie kommen an Orte, an denen man nicht einmal genug Zeit gehabt hat, sich um die russischen Gefallenen zu kümmern:
     
Die Toten lagen immer noch verstreut, in seltsamen, unnatürlichen Stellungen, genau dort, wo sie gefallen waren: verrenkt, gekrümmt, ausgestreckt, vornüber gefallen, das Gesicht platt am Boden. Österreicher und Russen liegen Seite an Seite. Und man sah zerfetzte, zerquetschte Körper auf der Erde, die dunkel gefärbt war. Da war ein Österreicher mit nur einem Bein, sein Gesicht schwarz und geschwollen, ein anderer mit einem zerstörten Gesicht, entsetzlich anzusehen, ein russischer Soldat im Stacheldraht hängend, die Beine unter sich eingeknickt. Und in mehr als einer offenen Wunde surrten die Fliegen, und auch noch anderes kriechendes, fadenähnliches Zeug. Ich war froh, dass Anna und Ekaterina bei mir waren. Sie schwiegen und waren tief erschüttert, genau wie ich. Diese «Haufen» waren vor kurzem noch lebendige menschliche Geschöpfe gewesen; Männer, jung und voller Kraft. Jetzt lagen sie still und leblos da, ungelenke Gestalten, die lebendiges Fleisch und Knochen gewesen waren. Wie ist doch das Menschenleben hinfällig und zerbrechlich!
     
    Diese verstümmelten, zerfetzten Körper stehen für sich, sind aber zugleich ein Sinnbild dessen, was der Krieg mit den Träumen und Hoffnungen der Menschen gemacht, ja, wie er die ganze alte Welt verändert hat. Er begann nicht zuletzt als Versuch, das alte Europa zu bewahren, einen Status quo aufrechtzuerhalten, aber jetzt ist er im Begriff, den Kontinent tiefgreifender zu verändern, als man es sich selbst in den schlimmsten Albträumen hätte vorstellen können. Wieder einmal bestätigt sich die uralte Einsicht, dass Krieg früher oder später unkontrollierbar und zerstörerisch wird, weil Menschen und Gesellschaften in blindem Siegeseifer dazu tendieren, alles zu opfern. Selten galt dies mehr als jetzt, da die Regierenden, unbeabsichtigt und planlos, unbeherrschbare Kräfte losgelassen haben: extremen Nationalismus, revolutionäre Energie, religiösen Hass. (Nicht zu reden von der grotesken Verschuldung, die das ökonomische Wohlergehen sämtlicher beteiligter Staaten gefährdet.) Erschüttert sucht Farmborough Halt in ihrem Glauben: «Man muss an die Gnade Gottes glauben und auf sie vertrauen,

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