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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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von Everts im März –, sondern vielmehr an einer Reihe von Punkten entlang der gesamten südlichen Front angreifen ließ. Dies bedeutete, drittens, dass die deutschen und österreichisch-ungarischen Generäle nicht wussten, wohin sie ihre Reserven schicken sollten, und die angreifende Schildkröte ausnahmsweise den abwehrenden Hasen besiegte.  67
    Dort, wo Lobanov-Rostovskij sich jetzt befindet, am Fluss Stochod, ist der Dampfwalze der Brussilow-Offensive schließlich der Dampf ausgegangen und sie ist keuchend steckengeblieben. Der Grund sind massive deutsche Verstärkungen und ebenso massive russische Verluste. Und dazu Nachschubprobleme nach dem üblichen Muster: Wie immer bewegt sich der Angreifer naturgemäß von seinen eigenen Eisenbahnlinien fort, während sich der Verteidiger den seinen nähert. In dem Gebiet haben sich Angriffe und Gegenangriffe ständig abgelöst. Die Linien haben sich vor und zurück bewegt, aber jetzt herrscht seit einer gewissen Zeit Ruhe am Stochod. Keine der beiden Seiten besitzt mehr die Kraft zu großen Aktionen. Im Osten wie im Westen hat dieser Sommer 1916   mehr Blutvergießen gebracht, als man sich je hätte vorstellen können.
    Für Lobanov-Rostovskij sind die letzten Monate ziemlich ruhig gewesen. Seine mangelnde militärische Veranlagung zeigt sich schon lange darin, dass er von den Pionieren zu einem Posten versetzt wurde, der noch weniger Kampftätigkeit erfordert – nämlich als Chef eines Brückenbautrupps, der aus achtzig Mann, sechzig Pferden und einigen schwerfälligen Pontons besteht. Sie sind bisher immer nur ganz hinten marschiert, bei der Artillerie. Aber auch auf diesem Posten hat er zwei Dinge feststellen können: Erstens hat die russische Armee ihre Schlagkraft erhöht, besonders hier an der Südwestfront Brussilows. Zum Beispiel sind ihre Schützengräben viel solider gebaut, verglichen mit denen, die er noch vor einem Jahr in Polen gesehen hat; auch die Tarnung ist vorbildlich. Und zweitens sind viele Verbände in guter Verfassung. Er hat sie vorbeimarschieren sehen, «singend und in perfekter Ordnung». Gleichzeitig bemerkt er, dass die Mannschaft komplett ist, die Offiziere dabei so jung, dass sie noch Flaum auf den Lippen haben, taufrische Produkte der Kadettenschulen. Die Veteranen von 1914   sind nun meist fort, gefallen, verschwunden, in Lazaretten, als Invaliden nach Hause geschickt.
    Jetzt ist Lobanov-Rostovskij ausnahmsweise an der Front. Er hat vorübergehend das Kommando über ein paar Scheinwerfer erhalten, deren eigentlicher Befehlshaber nach sechs Wochen in vorderster Linie einen Nervenzusammenbruch erlitt. Die Scheinwerfer sind mitsamt den Stromgeneratoren ganz weit vorn eingegraben. Sie sollen eingeschaltet werden, wenn die Deutschen einen nächtlichen Überraschungsangriff unternehmen, was die Infanteristen, die unter seinem Kommando stehen, für einfältig halten. Sie sagen es gerade heraus: Sie wollen ihn mit seinen Apparaten dort nicht haben. Scheinwerfer ziehen Geschützfeuer auf sich. Aber Befehl ist Befehl.
    Die Scheinwerfer sind letztlich nicht eingesetzt worden. So konnte Lobanov-Rostovskij, getreu seiner Gewohnheit, die meiste Zeit mit Büchern verbringen. In der fast rührenden Art des Büchermenschen, der sich das Große und Unbegreifliche, das er erlebt, durch Lektüre zu erschließen versucht, hat er viele Stunden damit verbracht, verschiedene deutsche Militärtheoretiker und Kriegshistoriker zu studieren, darunter Theodor von Bernhardi und Colmar von der Goltz und natürlich den ominösen Meister selbst: Carl von Clausewitz.
    Jenes etwas kindische Plakat, das triumphierend den Eintritt Rumäniens in den Krieg auf Seiten der Alliierten – übrigens ein Ergebnis der großen und unerwarteten Erfolge der Brussilow-Offensive – verkündet, hat also eine fast ebenso kindische Reaktion der Deutschen ausgelöst:  68 Punkt Mitternacht beginnt ein wütendes Sturmfeuer auf den Schützengraben, in dem das Plakat aufgestellt ist. Die deutsche Artillerie lässt sämtliche Instrumente zum Einsatz kommen, und das mit der unheimlich präzisen Einstimmigkeit, zu der nur sie allein fähig ist: das heulende Falsett der leichten Feldartillerie, der Bass der Haubitzen und der Bariton der Minenwerfer.
    Der technische Terminus ist «Trommelfeuer».
    Andrej Lobanov-Rostovskij befindet sich mitten in diesem Wirbelsturm von Stahl, Staub und Sprenggasen. Mit einigen seiner Soldaten hat er in einem improvisierten Schutzraum Deckung gesucht. Wie im

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