Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
abfeuert.
Als Coppens die eigenen Linien überquert, brechen die fremden Jäger ihre Angriffe ab und drehen um. Viereinhalb Minuten sind vergangen. Ihm selbst kommt es vor «wie eine Ewigkeit». Während des kurzen Gefechts haben sie zwölfhundert Meter Höhe verloren.
Nach der Landung inspizieren er und sein Schütze die Schäden. Sie zählen zweiunddreißig Einschusslöcher. Neunundzwanzig davon liegen so nahe am Cockpit, dass Coppens sie berühren kann, ohne seinen Sitz zu verlassen. Eine Kugel ist zwischen seinen Knien und ganz dicht an seiner rechten Hand vorbeigegangen, die auf dem Steuerknüppel lag. Abgesehen von jenem Geschoss, das im Leder seines Helms steckt, ist er nicht getroffen worden. Er nennt es selbst «ein Wunder». Unverwundbar?
***
Am selben Tag sitzt Edward Mousley im frühlingsgrünen Kastamonu und schreibt in sein Tagebuch:
Die Kapelle hat große Fortschritte gemacht. Ich bin jetzt erster Geiger und «Orchesterleiter». Neben Trommel, zwei Klarinetten, Flöte und Banjo haben wir fünf Violinen, zwei Cellos und zwei Bässe. Und die menschliche Viertelnote 14 ist gut vorangekommen beim Zusammenstellen unserer Noten, von verschiedenen Kleinigkeiten, die wir per Post bekommen haben, Pianosoli und Dingen, die wir selbst aus der Erinnerung niedergeschrieben haben. Wir treten jetzt jeden Samstagabend abwechselnd in beiden Häusern auf. Manchmal klingen wir tatsächlich wie eins dieser Orchester, die man zu Hause in Badeorten hören kann! Ich sehne mich nach den Konzerten, die man in der alten Queen’s Hall hören konnte.
Ansonsten vertreibt Mousley sich die Zeit damit, für Smoke zu schreiben, eine von Hand kopierte Zeitung, die heimlich unter den britischen Kriegsgefangenen in Kastamonu verbreitet wird. Er entwirft das Projekt für ein internationales Recht und reflektiert über die Möglichkeit, nach dem Krieg eine übernationale Organisation zu schaffen, eine Art Vereinte Nationen. Er hat Heimweh. Er denkt über eine Flucht nach.
143.
Dienstag, 8. Mai 1917
Herbert Sulzbach reitet durch einen Wald bei Brody
Wieder einer dieser scharfen Kontraste. Es gibt nicht nur den einen Krieg. Es gibt zehn, hundert, tausend. Sulzbachs Regiment ist an die Ostfront verlegt worden, genauer gesagt nach Galizien, noch genauer an die Front bei Brody. Es ist ruhig dort. Alle warten täglich darauf, dass ein Frieden oder Waffenstillstand mit den Russen geschlossen wird. Es finden keine Kämpfe statt. Im Gegenteil, die Soldaten der verfeindeten Armeen treffen sich draußen im Niemandsland, tauschen Waren und Neuigkeiten aus. Er sieht Schlüsselblumen, weiße Anemonen und weite Nadelwälder. Er sieht Zugpferde in den Stellungen umhergehen und um die ruhenden Geschütze herum grasen – eine im Westen vollkommen undenkbare Szene. Er hört Vögel singen. Er hört Grammophonmusik. Aber er hört keine Schüsse. Wie seltsam. Es könnte Frieden sein. Vielleicht ist sogar schon Frieden?
Auch für Sulzbach selbst war es eine Zeitlang ziemlich ruhig. Er hat einen großen Teil davon im Lazarett verbracht, allerdings lediglich mit einer hartnäckigen Halsentzündung. Er ist auf Heimaturlaub gewesen, wo er zu seiner Überraschung und unverhohlenen Freude seinen Freund Kurt angetroffen hat. Er las viel, vor allem skandinavische Autoren. Und er hatte Zeit zum Nachdenken, vor allem über den Krieg:
«Er sollte doch eigentlich nur ein Intermezzo im Leben sein, und nun währt er bald drei Jahre, und alles erscheint einem manchmal als ein böser Traum, den wir jahrelang aber nun schon zu träumen haben.»
Eine düstere Stimmung hat ihn ergriffen. Für den sonst so heiteren Sulzbach ist dies ein neues, ungewohntes Gefühl. Nur wenn er trinkt, kann er sein altes, entspanntes Ich wieder finden.
Die Begegnung mit der Stille bei Brody hat ihm jedoch gutgetan. Heute führt sein Ausritt hinter die Linien. Er reitet durch einen beinahe romantisch schönen Frühlingswald: «Alles in jungem Grün, blühende Blumen, singende Vögel, blauer Himmel. Märchenhaft.»
***
Als er nach einem weiteren ruhigen Tag in den Schützengräben zu seiner Batterie zurückkehrt, erhält er den Befehl, unverzüglich an die Westfront zurückzukehren. Seit drei Wochen ist dort eine große französische Offensive im Gang. Man braucht Reservetruppen.
144.
Montag, 21. Mai 1917
Harvey Cushing sieht Wrackteile im Atlantik
Es ist der zehnte Tag auf See, und das Wetter ist ausnahmsweise schön. Die Sonne scheint, das Meer ist ruhig.
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