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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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Das Schiff heißt SS Saxonia , an Bord befinden sich Harvey Cushing und alle anderen Mitarbeiter des Base Hospital Nr.   5. Sie gehören zu den ersten amerikanischen Verbänden, die nach Europa geschickt wurden. Die USA sind erst vor einem guten Monat in den Krieg eingetreten, «um die Demokratie in der Welt zu sichern». Ihr Kriegseintritt hat auf jeden Fall die Briten abgesichert, rein wirtschaftlich. Auch sie führen diesen Krieg auf Kredit, ein Kredit, der Ende des vergangenen Jahres auszulaufen drohte, und es gab in der britischen Regierung Stimmen, die vor einem wirtschaftlichen Zusammenbruch warnten. Jetzt, um fünf vor zwölf, ist Großbritannien mit amerikanischem Geld – und nicht zuletzt amerikanischen Rohstoffen – wieder stabilisiert worden.
    Bisher ist ihre Seereise unruhig, wenn auch ohne Zwischenfälle verlaufen. Die SS Saxonia ist ganz auf sich allein gestellt – das Konvoisystem existiert noch nicht – und steuert im Zickzack-Kurs über den Atlantik, stets auf der Hut vor feindlichen U-Booten. Alle tragen zu jeder Tageszeit Schwimmwesten. Ein ums andere Mal wird das In-die-Boote-Gehen geübt. Abends leuchtet alles in einer blaugrauen Färbung: das Schiff, das Meer, die Wolken.
    Die militärischen Formen prägen zusehends auch diesen im Grunde unmilitärischen Verband. Überall an Bord sind Wachen postiert, an Deck wird exerziert. Die Schuhe werden gewienert. Wenn die Offiziere ihre täglichen Gymnastikübungen verrichten, wird darauf geachtet, dass Mannschaften und Unteroffiziere nicht zuschauen; sie könnten ihren Respekt verlieren. Cushing fällt es schwer, sich einzugewöhnen. Nicht ohne Verwunderung hat er zuvor seine Sporen entgegengenommen – ein reines Offiziersattribut, denn das Base Hospital Nr.   5 hat keine Pferde – und eine Maschinenpistole Modell M 1911, «ölig und abscheulich anzusehen». Er wird sie selten tragen und nie benutzen.
    Nicht dass Cushing am Krieg zweifelt. Er ist schon lange überzeugt, dass die USA früher oder später in den Krieg hineingezogen werden würden, ja, dass sie sogar aus eigenem Antrieb eintreten müssten. Und er hat alles getan, um seine Kollegen zu Hause in Boston darauf vorzubereiten. Die Erfahrungen, die er im Frühjahr 1915 als medizinischer Beobachter in Europa gesammelt hatte, verstärkten zwar seinen Abscheu vor dem Krieg an sich, nahmen ihm aber in gewisser Weise seine konkrete Angst vor dem Geschehen an der Front. So schrieb er in jenem Frühjahr in sein Tagebuch: «Je weiter man von zu Hause wegkommt und je mehr man sich dem eigentlichen Kriegsschauplatz nähert, desto weniger wird darüber gesprochen und desto weniger erschreckend wirkt er.» Als Neurologen interessiert ihn seitdem vor allem das Phänomen «Granatenschock».
    Lange Zeit war er ein neutraler Beobachter gewesen, der etwa die Berichte über angebliche deutsche Übergriffe mit einer gewissen Skepsis vernahm. Bald verlor er jedoch seine kühle Distanz. Sein Schlüsselerlebnis hatte er am 8. Mai 1915. Auf dem Rückweg in die USA fuhr sein Schiff unweit der irischen Küste an Überresten der SS Lusitania vorbei, die am Tag zuvor von einem deutschen U-Boot versenkt worden war – dabei starben 1198 Männer, Frauen und Kinder. Einhundertvierundzwanzig von ihnen waren Amerikaner. Eine ganze Stunde lang stampfte das Schiff durch Wrackteile – schockiert betrachtete Cushing umhertreibende Deckstühle, Ruder, Kisten und neben einem aufblasbaren Rettungsboot die leblosen Körper einer Frau und eines Kindes. Ein Fischtrawler fuhr herum und barg Leichen – für eine Belohnung von einem Pfund Sterling pro Stück.
    Natürlich sind es diese Erinnerungen, die jetzt, an diesem Tag im Mai 1917 wieder aufsteigen, als sie plötzlich auf dem Wasser Wrackteile erkennen. Diesmal sieht Cushing jedoch keine Leichen, nur ein Luk, Kleinteile, eine Schwimmweste. Am Nachmittag stößt ein Geleitschiff zu ihnen, ein kleiner, etwas altmodischer Zerstörer, auf dessen Bug die Nummer 29   gemalt ist. Das Schiff folgt ihnen in einem Abstand von knapp einem halben Kilometer. Sie rufen hurra und winken. Die Erleichterung ist groß. Cushing glaubt, dass sich mehr Leute als bisher trauen werden, in dieser Nacht unter Deck zu schlafen.
    Später üben sie auf dem Oberdeck das Tragen der Bahren, niemand hat Erfahrung damit. Der Unterricht folgt einem Handbuch. Im Vorschiff sind ihre frisch gepackten Armeekoffer gestapelt. Wenn alles nach Plan verläuft, macht die SS Saxonia am nächsten Tag um sechs Uhr

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