Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
Sie drängen weiter durch den leeren Verbindungsgraben vor.
Nach knapp hundert Metern erreichen sie eine Biegung. Nach einer weiteren taucht ein deutscher Soldat mit Gewehr und aufgepflanztem Bajonett vor ihnen auf. Pollard schießt. Er sieht, wie der Deutsche das Gewehr fallen lässt, die Hände auf den Bauch presst und zusammensackt. Zwei Handgranaten fliegen über Pollards Kopf, in Richtung der nächsten Biegung. Noch ein Deutscher taucht auf. Pollard schießt erneut. Auch dieser Mann fällt auf der Stelle. Die Handgranaten explodieren. Er sieht, wie ein Deutscher kehrtmacht, sieht weitere Deutsche vorwärtsdrängen. Er schießt erneut. Handgranaten segeln über ihn hinweg und detonieren: «Bang! Zunk!» Die restlichen Deutschen ziehen sich zurück.
Ein normal veranlagter Mensch würde sich in diesem Augenblick, da der deutsche Angriff gegen alle Wahrscheinlichkeit abgewehrt war, zufriedengeben – zumal alle Handgranaten verbraucht sind.
Nicht aber Pollard.
«Mein Blut war in Wallung. Ich spürte eine Erregung, die nur zu vergleichen ist mit dem Gefühl, wenn man beim Rugby die Abwehr durchbricht, um einen Versuch zu erzielen.» Er verfolgt die fliehenden Deutschen durch den Verbindungsgraben. Er erkennt Gestalten in Feldgrau. Er schießt, verfehlt. Schließlich besinnt er sich doch und beginnt, eine Abwehr zu organisieren. Seine Spezialität sind Handgranaten, und zu seiner Freude haben die Deutschen eine Menge davon zurückgelassen. Pollard hält viel von diesen Stabhandgranaten, weil man sie weiter werfen kann, aber auch weil sie wegen ihrer größeren Sprengladung einen deutlich stärkeren Knall abgeben als die britischen – rein psychologisch hat das große Bedeutung.
Nach knapp zehn Minuten haben die Deutschen sich zu einem Gegenangriff gesammelt. Es kommt zu einem Handgranatenduell. Granaten fliegen in rascher Folge durch die Luft. Knall folgt auf Knall. Überall Staub und grauer Rauch. Pollard nimmt seinen Helm ab, um besser werfen zu können. Nach einer Weile reißt er sich auch das Gasmaskenfutteral herunter. «Bang! Bang! Bang! Bang!» Sie heben die deutschen Handgranaten, die zwischen ihren Füßen landen, sofort auf und werfen sie über die Kante zurück. Die völlig überrumpelten Deutschen haben offenbar keine Ahnung, dass ihnen nur vier Männer gegenüberstehen. Das ist auch kaum zu erkennen, da es im Verbindungsgraben so eng ist, dass nur zwei, drei Mann gleichzeitig am Kampf teilnehmen können. Wären seine Gegner dagegen auf die Kante des Grabens hinaufgeklettert, hätten sie Pollards kleine Truppe in wenigen Augenblicken übermannen können.
Der Vorrat an erbeuteten Handgranaten geht schnell zur Neige. Einer von Pollards Soldaten fragt, ob sie sich nicht langsam zurückziehen sollten. Pollard weigert sich. Dann wird es still.
«Der deutsche Gegenangriff hörte ebenso plötzlich auf, wie er angefangen hatte.» Sie zählen ihre Handgranaten. Es sind nur noch sechs. Als Pollard mit ein paar Soldaten den Verbindungsgraben abschreitet, um noch mehr liegengebliebene Handgranaten einzusammeln, begegnen sie Männern aus ihrer Kompanie, die nachgeschickt wurden, um sie zu unterstützen. Mit ihrer Hilfe wehren sie den nächsten deutschen Angriff ohne Probleme ab.
Wieder wird es still.
Pollard verbringt den Rest des Nachmittags damit, die Verteidigung des Verbindungsgrabens zu organisieren.
Es bleibt ruhig.
Am Abend werden sie abgelöst. Pollard ist völlig erschöpft. Als sie zurückmarschieren, geraten sie in eine Wolke aus Kampfgas, aber ihm fehlt die Kraft, sich die Gasmaske aufzusetzen. Als sie die Feldküchen erreichen, fühlt er sich sehr krank. Eine Tasse Tee sorgt jedoch für ein wenig Linderung.
142.
Dienstag 1. Mai 1917
Willy Coppens’ viereinhalb Minuten über Houthulst
Sicher ist es Selbstüberschätzung. Das vordere Maschinengewehr ist noch nicht an seiner Flugmaschine montiert, er muss sich also mit der Waffe des Beobachters begnügen; dennoch ist Coppens entschlossen. Heute will er weit ins feindliche Territorium fliegen. Dort wird er sich einen Gegner suchen, um ihn abzuschießen. Coppens sagt es selbst: Er fühlt sich heute nahezu «unverwundbar». Zum Teil vertraut er seinen eigenen Fähigkeiten. Er ist jetzt ein gestandener Pilot, wenn auch ohne Erfahrung im Luftkampf. Zum Teil vertraut er seiner Maschine: eine Sopwith 1 ½ Strutter, der schnellste und modernste Flugzeugtyp, den Coppens je geflogen hat. 10
Sie überfliegen die Frontlinie bei Ypern. Es ist
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