Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
einen Weg durch ihren Stacheldraht gebahnt und war in einen ihrer Schützengräben geklettert, im Glauben, er sei leer. Aber ich entdeckte bald, dass er voller Hunnen war, weshalb ich schnell zum Rückzug blasen musste. Glücklicherweise kam ich mit heiler Haut davon. Es geht das Gerücht, dass mich der Brigadechef nach diesem Vorfall für eine weitere Auszeichnung empfohlen hat, halte also die Augen offen, wenn du Zeitung liest, dann bekommst du vielleicht bald meinen Namen zu sehen. Glaube nicht, dass ich ein unnötiges Risiko eingegangen bin. Das bin ich nicht. Ich habe nur getan, was andere mir aufgetragen haben.
Ja, ja, liebe alte Dame, auch wenn wir die Front jetzt verlassen haben, sind wir immer noch fern von der Zivilisation. Übrigens habe ich noch eine Kiste mit Platten bekommen, kann sie aber auf dem verflixten Grammophon nicht abspielen, solange ich keine neuen Lenkfedern habe.
Beeile dich also bitte damit.
Bin bestens gelaunt, es geht mir prima. Außerdem habe ich noch einen Deutschen getötet. Hurra!
141.
Sonntag, 29. April 1917
Alfred Pollard stoppt einen deutschen Angriff bei Gavrelle
Das heftige Sturmfeuer in der vordersten Linie kann seinen Schlaf nicht stören. Dann aber wird er von einem Melder geweckt, der ihm einen knappen Befehl übermittelt: Pollard soll unverzüglich für Flankenschutz sorgen. Er stürzt aus seinem Bunker: «Ich hatte keine Zeit zu fragen, was passiert war. Offenbar war etwas schiefgegangen. Ich musste sofort handeln.»
Draußen, im klaren Frühlingslicht, ist es merkwürdig still. Weder Explosionen von Granaten noch Gewehrschüsse sind zu hören. Aber die scheinbare Ruhe macht ihn nur noch nervöser. Pollard spürt, wie sein Herz schlägt. «Mein Instinkt sagte mir, dass wir in tödlicher Gefahr waren.» Er beobachtet die Schützengräben in der vordersten Linie. Auf der rechten Seite scheint alles in Ordnung zu sein. Er blickt nach links. Plötzlich erkennt er das Problem. Dort, in anderthalb Kilometern Entfernung: ein deutscher Gegenangriff. Soldaten sind nicht zu erkennen, aber er hört das Geräusch der Handgranaten – «Bang! Bang! Zunk! Zunk!» – und beobachtet kleine graue Rauchwolken, die bei der Explosion aufsteigen.
Nach fünf Minuten geschieht etwas völlig Unerwartetes. Die angegriffene Position scheint stabil zu sein, aber einige der britischen Soldaten, die den benachbarten Schützengraben halten, beginnen fluchtartig zu rennen. Schnell verbreitet sich Panik. Die Soldaten verstreuen sich über das Feld.
Dann sieht Pollard, wie der deutsche Gegenangriff voranschreitet: durch den entstandenen Leerraum hindurch, durch den Verbindungsgraben, auf ihre zweite Linie und genau auf den Punkt zu, an dem er sich selbst befindet. Jeder normal veranlagte Mensch würde sich in diesem Augenblick, da die deutschen Sturmsoldaten jede Minute auftauchen könnten, damit begnügen, in aller Eile eine Abwehr zu organisieren, um den unvermeidlichen Zusammenstoß abzuwarten. Die deutschen Kräfte sind massiv, mindestens eine Kompanie, vielleicht ein ganzes Bataillon.
Jeder normal veranlagte Mensch, nicht aber Pollard.
Zuerst lässt ihm der Schock die Knie weich werden. Er muss sich am Rand des Schützengrabens festhalten, um nicht zusammenzubrechen.
Und dann überkam es mich, jenes seltsame Gefühl, das ich schon früher beschrieben habe, das Gefühl, nicht mehr aus eigener Kraft zu handeln. Eine höhere Macht übernahm die Kontrolle über mich. Getrieben von dieser mysteriösen Macht, stürmte ich nach vorn.
Es gelingt ihm, einige Soldaten davon abzuhalten, panisch zu fliehen, er postiert sie in verschiedenen Explosionskratern und befiehlt ihnen zu schießen. Dann zieht er seinen Revolver. Mit der Waffe in der Hand und drei Mann mit insgesamt sechs Handgranaten hinter sich, bereitet er sich darauf vor, durch den Verbindungsgraben den Deutschen entgegenzustürmen. Dass ihm eine etwa hundertfache feindliche Übermacht gegenübersteht, kümmert ihn wenig.
Er gibt den drei Soldaten eine kurze Anweisung: Sie sollen ihm mit entsicherten Handgranaten unmittelbar folgen. Wenn sie hören, dass er seinen Revolver abfeuert, sollen sie eine Handgranate so werfen, dass sie ungefähr fünfzehn Meter vor ihm landet, hinter der nächsten Biegung des Verbindungsgrabens.
Dann stürmen sie los.
Auf den ersten hundert Metern ist niemand zu sehen. Der Graben ist leer. Sie treffen auf einen einzelnen britischen Soldaten: «Er wurde zum vierten Mitglied meiner kleinen Armee.»
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