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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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schwelgend: die Erleichterung darüber, einmal den armen Alten da unten von der Rückkehr des verlorenen Sohnes erzählen zu können – woran man an dem Tag, an dem man aufbrach, nicht zu denken wagte.

153.
    Donnerstag, 19. Juli 1917
    René Arnaud erlebt, wie Marie Delna in Noyon ausgebuht wird
     
    Warum soll die Vorstellung nicht auf traditionelle Weise beendet werden, mit der Marseillaise? Der Divisionskommandeur ist aufgebracht. Der Theaterdirektor erklärt ihm, vermutlich ein wenig peinlich berührt, dass sie «aus bitterer Erfahrung gelernt haben, die französische Nationalhymne vor den Soldaten besser nicht zu singen, wenn die Kampfmoral so schwach ist wie im Augenblick».
    Es ist nun drei Monate her, dass die Meutereien in der französischen Armee ausbrachen, und erst jetzt ist ihre alte Kampfkraft wieder hergestellt. Und das auch nur bedingt. Unter der Oberfläche gibt es immer noch Spannungen.
    Die Meutereien von Ende April sorgten allgemein für Ernüchterung. Generäle und Politiker geben sozialistischem Aufruhr, pazifistischer Propaganda, dem revolutionären Virus aus Russland und ähnlichen Phänomenen die Schuld. Und überhaupt ist das Frühjahr in Frankreich unruhig gewesen. Ohne Zweifel herrscht derselbe Überdruss am Krieg wie in Russland, und er verschafft sich teilweise auf dieselbe Art Ausdruck: Ungehorsam, Streiks, Demonstrationen. Die Armeemeutereien waren jedoch nie Teil einer koordinierten Bewegung. Sie wurden auch nicht gespeist von Zukunftsträumen, sondern eher von den Albträumen der Gegenwart.
    Die große französische Apriloffensive wurde von den gleichen überheblichen Phrasen begleitet wie die große Offensive in der Champagne im Herbst 1915: Die Vorbereitungen seien ideal verlaufen, die Deutschen seien so gut wie bezwungen, der Durchbruch nur noch eine Formsache, der Sieg gewiss und so weiter. Das Versprechen, dass der Krieg in achtundvierzig Stunden entschieden sein würde, brachte auch die Kriegmüdesten dazu, sich noch einmal aufzuraffen. Allons enfants de la Patrie/Le jour de gloire est arrivé! Als die Offensive wieder einmal stagnierte, bei minimalen Erfolgen und maximalen Verlusten, ging ganz einfach etwas in die Brüche.  20
    Arnauds eigenes Bataillon wurde von den Meutereien nicht berührt – aber es stammt auch aus der Vendée, einer Region ohne revolutionäre Tradition. Sie waren jedoch indirekt von den Vorfällen betroffen, denn als sie nach zehntägigem Frontdienst abziehen sollten, erfuhren sie, dass die Ablösung um vierundzwanzig Stunden verschoben wurde. Das Bataillon, das ihren Platz einnehmen sollte, hatte sich geweigert, in die Schützengräben zu gehen, bevor nicht eine Reihe von präzisen Forderungen eingelöst wurde.
    Vermutlich besteht der Divisionschef deswegen darauf, dass zum Abschluss die Marseillaise gesungen werden soll, weil seine Truppen sich während der Meutereien so ruhig verhalten haben. Der Theaterdirektor gibt nach. Man kann die Theatervorstellung an diesem Tag als Akt der Fürsorge verstehen, zu dem die Militärführung sich aufgrund der Meutereien gezwungen sah. Die Vorstellung findet im Freien statt, damit so viele Zuschauer wie möglich sie verfolgen können. Mitten im Hochsommer kein größeres Problem.
    Gegen Ende betritt der Star die improvisierte Bühne. Es ist niemand anderes als Marie Delna, der vielleicht schönste Alt, den man gegenwärtig in Europa hören kann. Sie hat eine jahrzehntelange Erfolgskarriere hinter sich: An der Pariser Oper natürlich, aber auch an der Mailänder Scala, im Londoner Covent Garden und in der New Yorker Metropolitan Opera. Sie ist ein Superstar. Inzwischen auch, was den Körperumfang betrifft, wie Arnaud und die anderen im Publikum feststellen können. Aus dem anmutig zarten Wesen, das sie von Plakaten und Photographien kennen, ist eine sehr beleibte Dame geworden. Sie singt jedoch so schön wie immer, in einem weißen Hemd mit der Trikolore in der Hand auf der Bühne stehend. Aux armes, citoyens! Formez vos bataillons!/Marchons, marchons! Zu den Waffen greifen, Bataillone bilden und losmarschieren – dieser Appell kann schon etwas provozierend wirken, zumindest in der gegenwärtigen Lage, da so viele Menschen weder das Erste noch das Zweite und schon gar nicht das Dritte tun wollen.
    Als sie die letzten Strophen gesungen hat, mischen sich Buhrufe in den Applaus der Soldatenmenge. Der Divisionschef ist außer sich vor Wut und gibt Befehl, die Banausen zu identifizieren. Ein aussichtsloses

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