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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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erfüllt jeden von uns vollkommen. Ich unterhalte mich noch lange mit meinem Freunde Kurt R. Wir schweifen ab auf das Zivilleben, erzählen aus der Kindheit, und alles, was einem früher im Leben so selbstverständlich vorgekommen ist, erscheint jetzt als etwas paradiesisch Schönes.

13.
    Sonntag, 25. Oktober 1914  19
    Michel Corday nimmt den Zug zurück nach Bordeaux
     
    Zuweilen bewegt er sich unter den Menschen, als wäre er auf einem anderen Planeten, inmitten des absurd Unbegreiflichen. Ist das hier wirklich seine Welt? Im Grunde nicht. Michel Corday ist ein 45-jähriger Beamter im Ministerium für Handel und Postwesen, aber auch Sozialist, Friedensfreund und Literat. Er schreibt über Literatur und Politik in Zeitungen und Zeitschriften und hat auch einige Romane veröffentlicht, darunter ein paar recht erfolgreiche. (Er ist früher Offizier gewesen, und mehrere seiner Werke spiegeln diese Erfahrung wider, zum Beispiel Intérieurs d’officiers von 1894 und Cœurs des soldats von 1897, während sich andere gesellschaftlichen Themen oder dem Herzschmerz widmen.)
    Michel Corday war ursprünglich sein nom de plume  20 , und dieser bedächtige, mit einem Schnurrbart geschmückte Mann ist offensichtlich ein recht typischer Intellektueller der Jahrhundertwende mit einer Doppelexistenz: Weil er von seiner Feder nicht leben kann, muss er als Beamter sein Geld verdienen. Gleichzeitig ist der Unterschied zwischen beiden Existenzen nicht besonders groß: Er hat den Namen gewechselt, auch sein Beamten-Ich heißt jetzt Corday. Alle wissen, dass er schreibt. Mit Anatole France ist er eng befreundet.
    In den ersten Septembertagen, als es wirklich so aussah, als wären die Deutschen nicht aufzuhalten, hatte die Regierung Paris verlassen und mit ihr die Bediensteten der Ministerien. Im Automobil waren sie aus der in Panik geratenen Stadt entkommen – «die Fliehenden rannten einander auf dem Bahnhof um, als befänden sie sich in einem brennenden Theater» – und hatten Zuflucht in Bordeaux gesucht. Cordays Ministerium wurde in einer Einrichtung für Taubstumme in der Rue Saint-Sernin untergebracht. Und jetzt, mehr als einen Monat nachdem die Deutschen an der Marne gestoppt wurden, heißt es immer öfter, es sei für die Regierung und die Ministerien Zeit zurückzukehren. Cordays eigene Familie ist nach Saint-Amand evakuiert worden. Er hat sie besucht und reist an diesem Abend zurück nach Bordeaux.
    Für Corday war der Kriegsausbruch eine schändliche Niederlage, und er hat sich damit noch nicht abgefunden. Er hatte die Ferien am Meer verbracht und war krank geworden, er erfuhr von den Geschehnissen durch Zeitungslektüre und Telefongespräche. Nur langsam konnte er sich ein Bild machen. Eine Weile hatte er vergeblich versucht, sich durch Lesen abzulenken. «Jeder Gedanke und jede Tat, die der Kriegsausbruch auslöste, war ein bitterer Schlag gegen die große Überzeugung, die ich in meinem Herzen trug: die Idee des steten Glücks und Fortschritts für alle Menschen. Ich hätte nicht gedacht, dass dergleichen geschehen könnte. Es bedeutete, dass mein Glaube in sich zusammenfiel. Der Kriegsausbruch markierte das Erwachen aus einem Traum, den ich genährt habe, seit ich zu denken begann.» Am Strand spielten die Kinder Krieg: Die Mädchen waren Krankenschwestern, die Jungen verwundet. Von seinem Fenster aus sah er einen Trupp Artilleristen abmarschieren, singend, und da brach er in Tränen aus.
    Dem Jubel und Chaos in jenen warmen Augusttagen ist wirklich eine andere, fremde Welt entsprungen.
    Teils im Äußeren: all diese Frauen, die keine Kosmetika mehr benutzen, «aus patriotischen Gründen»; diese Uniformen überall, denn Uniformen sind die neueste Mode; all die immer länger werdenden Warteschlangen vor Messen und Beichtstühlen; die Ströme von Flüchtlingen, beladen mit ihren Bündeln; die Verdunkelung in der Stadt; die Straßensperren mit übereifrigen, despotischen Milizen; all diese Truppentransporte, mit Unversehrten auf dem Weg zur Front oder mit Verwundeten, die von dort zurückkehren.
    Teils im Inneren: das ständige Abfeuern vaterländischer Parolen, so überspannt wie zwangsläufig; die neue Kompromisslosigkeit: «Freundlichkeit, Humanität – alles ist weggefegt»; die hysterische Tonlage in der Propaganda ebenso wie in den Gesprächen der Menschen über den Krieg (eine Frau erklärte ihm, man solle nicht weinen über die, die an die Front marschierten, Mitleid verdienten die Männer, die nicht am

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