Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
Kampf teilnehmen könnten); die verwirrende Mischung aus Großzügigkeit und Egoismus; die plötzliche Unfähigkeit, irgendwelche Nuancen wahrzunehmen: «Man wagt nicht, etwas Schlechtes über den Krieg zu sagen. Der Krieg ist zum Gott geworden.» Aber Corday tut seine Pflicht als guter Beamter.
Auf der Hinreise war der Zug von Frauen bestürmt worden, die allen Uniformierten Obst, Milch, Kaffee, Schnittchen, Schokolade und Zigaretten aufdrängten. In einer Stadt hatte er Jungs gesehen, die mit Polizeihelmen auf dem Kopf Sanitäter spielten. In keinem Bahnhof gibt es noch einen Wartesaal: Sie dienen jetzt als provisorische Lazarette oder Lagerräume für militärische Ausrüstung. Auf dem Weg zurück hört er irgendwo zwischen Saint-Pierre und Tours, wie sich zwei Familien unterhalten: «Beide zählten resigniert ihre Gefallenen auf, als handelte es sich um Opfer einer Naturkatastrophe.»
In Angoulême wird ein Mann auf einer Trage in den Zug gehoben und in einem Abteil nebenan untergebracht. Er wurde durch einen Granatsplitter am Rücken verwundet und ist jetzt gelähmt. Begleitet wird er von einer Krankenpflegerin, die seine Wunde untersucht, und einer blonden Frau, in der Corday die Frau des Gelähmten oder seine Geliebte vermutet. Er hört, wie sie zur Krankenschwester sagt: «Er weigert sich zu glauben, dass ich ihn immer noch liebe.» Als die Pflegerin das Abteil verlässt, um sich die Hände zu waschen, beginnen die blonde Frau und der Gelähmte sich leidenschaftlich zu küssen. Und als die Schwester wieder auftaucht, tut sie, als sähe sie es nicht, und starrt nur in die Nacht hinaus.
In Cordays eigenem Abteil sitzt ein kleiner Unteroffizier, der gerade von der Front zurückgekehrt ist. Sie plaudern ein wenig miteinander. Gegen vier Uhr morgens hält der Zug an einem Bahnhof, und der Unteroffizier steigt aus. Ein Mädchen stürzt dem kleinen Mann entgegen und wirft sich in seine Arme. Corday schreibt: «Dass so viel Liebe, dass die Liebe all der Mütter, Schwestern, Frauen und Freundinnen bisher ohnmächtig ist gegen all diesen Hass.»
Auf den Bahnhöfen, an denen sie vorbeikommen, sieht man in den Kiosken farbige Illustrierte, die aber allesamt in den ersten Tagen des August gedruckt wurden. Seitdem sind keine aktuellen Ausgaben mehr erschienen. Es ist, als habe eine neue Zeitrechnung begonnen.
14.
Mittwoch, 4. November 1914
Pál Kelemen wird nördlich von Turka verwundet
Die Nacht ist schön, mondklar, sternenkalt. Nur widerwillig verlässt sein Pferd den warmen Stall und trabt in den beißend kalten Wind hinaus. Die Armee ist wieder einmal auf dem Rückzug. Sie haben den Befehl, dafür zu sorgen, dass die zurückweichenden Verbände nicht ins Stocken oder gar zum Stillstand kommen. Es wird nämlich eine neue Verteidigungslinie errichtet. Schon gegen zwei Uhr heute Nacht soll sie fertig und hoffentlich mit frischer Infanterie besetzt sein, die jetzt unterwegs ist zum Pass hinauf. Die Aufgabe, die man Kelemen und seinen Husaren gestellt hat, ist nahezu unlösbar, denn es fällt ihnen schwer, sich in der Dunkelheit einen Überblick zu verschaffen. Auf dem Weg herrscht bereits Chaos. Langsam reiten sie bergauf, durch den trägen grauen Strom von Männern, Pferden, Wagen, Kanonen, Munitionskarren und Packeseln.
Er beobachtet etwas, das im Mondschein wie lange schwarze Striche im weißen Schnee aussieht – das sind die neu ausgehobenen Schützengräben. Er hört das Geräusch von Gewehrfeuer – es sind die Russen, die dort vorn Druck zu machen beginnen – und registriert, dass der Strom der Zurückmarschierenden abgeebbt ist, aber immer noch erscheinen einzelne Gruppen von Fliehenden. Kelemen und seine Männer weisen ihnen den Weg. Die Straße ist vereist und sehr glatt. Sie müssen absitzen und ihre Pferde führen. Kelemen schreibt in sein Tagebuch:
Unterdessen hat die russische Artillerie das Feuer an diesem gesamten Frontabschnitt eröffnet. Ich schwinge mich wieder in den Sattel und reite in Richtung des Geschützdonners. Der Mond geht gerade unter, und in der scharfen Kälte beginnt sich der Himmel zu verdunkeln. Schwere Rauchschwaden von Granaten und Kartätschen segeln unter den Wolken heran.
Ein paar verlassene Armeewagen stehen auf dem Weg, ohne Mannschaft oder Pferde. Wir haben sie gerade passiert, als ich einen harten Schlag verspüre, der mich an meinem linken Knie trifft, während gleichzeitig mein Pferd unruhig wird. Ich denke, ich bin in der Dunkelheit gegen etwas gestoßen.
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