Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
Ich betaste mein Knie und hebe dann instinktiv meine behandschuhte Hand ans Gesicht. Sie ist warm und feucht, und jetzt verspüre ich einen scharfen, pochenden Schmerz.
Mogor reitet neben mir, und ich sage zu ihm, dass ich glaube, getroffen worden zu sein. Er reitet dicht heran und sieht, dass auch mein Pferd eine Wunde hat, eine kleine, an der Lende. Aber Pferd und Reiter können weiterziehen. Hier könnte man ohnehin nicht absitzen. Es gibt in der Nähe keinen Verbandsplatz. Und zu versuchen, bis zur Erste-Hilfe-Station der Infanterie bei der vordersten Linie zu gelangen, ist viel gefährlicher, als wieder zurückzureiten, da sie im Sturmfeuer stehen.
Auf einfache, aber doch freundliche Weise versucht Mogor tapfer, meine Aufmerksamkeit von der Wunde abzulenken. Er tröstet mich, indem er beteuert, dass wir sicher bald auf einen marschierenden Trupp stoßen werden, bei dem sich ein Arzt befindet.
Es wird immer heller. Im Osten geht die Sonne mit leuchtenden Farben auf. Der Himmel strahlt, die schneebedeckten Berge treten scharf gegen die dunkelgrünen Nadelwälder hervor. Ich habe das Gefühl, dass mein Bein wächst, dass es immer länger wird. Mein Gesicht wird heiß, und ich halte den Zügel mit steifer Hand. Mein Pferd, dieses prächtige, intelligente Tier, sucht sich mit noch immer sicheren Schritten seinen Weg durch die Schneehaufen.
Schließlich erreichen wir den südlichen Ausgang des Passes. Hier, auf der windgeschützten Seite, ist der Weg nicht ganz so vereist, und als die Sonne in ihrer Herrlichkeit das Tal vor uns mit ihrem Licht erfüllt, sehen wir die ersten abgelegenen Häuser am Rande eines Dorfs.
Auf dem offenen Marktplatz treffen wir auf Vas, der besorgt fragt, warum wir so spät kommen, und der Anzeichen von Panik verrät, als Mogor berichtet, was geschehen ist. Im Laufe der Nacht ist die Dorfschule eilig in einen Verbandsplatz verwandelt worden, und mit Vas auf der einen und Mogor auf der anderen Seite reite ich auf das Tor des Schulhofs zu.
Jetzt beginnt alles vor meinen Augen zu verschwimmen. Ich schaffe es nicht mehr, aus dem Sattel zu steigen; mein linkes Bein ist taub geworden. Zwei Krankenpfleger helfen mir aus dem Sattel, und Mogor führt das Pferd weg. Vorsichtig legen sie mich ab; als mein linkes Bein den Boden berührt, kann man das Blut, das sich im Stiefel gesammelt hat, glucksen hören. Ich kann nicht aufstehen. Mit der Unbekümmertheit, die bezeichnend ist für die Jugend, hält mir Vas seinen Taschenspiegel vor Augen, und ich sehe darin ein fremdes, gelbes, altes Gesicht.
15.
Sonntag, 8. November 1914 21
Alfred Pollard hebt einen Schützengraben bei La Bassée aus
Eigentlich wäre es nicht notwendig gewesen, aber sie zum Graben vorzuschicken ist eine Methode, sie zu beschäftigen, während sie auf einen neuen Marschbefehl warten. 22 Niemand sagt ihnen, dass sie sich in Acht nehmen sollen.
So vieles ist neu und ungewohnt. Die Front im Westen ist jetzt endgültig erstarrt, und richtige Kämpfe finden vorerst nur oben in Flandern statt: die erste Schlacht bei Ypern. Beide Seiten sind vor allem damit beschäftigt, sich einzugraben. Was nicht immer so einfach ist, wie es klingt. Niemand hat diesen merkwürdigen Stellungskrieg vorausgesehen, man hat kaum Erfahrung damit. Später wird Pollard berichten: «1914 waren die Schützengräben grässlich.» Abwasser und Reinhaltung funktionieren nicht, und es gibt keine Schutzräume oder Bunker, sondern nur kleine Abschnitte mit Dächern, die bestenfalls den Regen abhalten, aber nicht viel mehr. Ja, die ganze Landschaft des Stellungskriegs ist neu, nicht zuletzt ihre trügerische Leere. Denn wo befindet sich eigentlich der Feind? Hier ist er nicht zu sehen. Und wo überhaupt ist der Krieg in dieser ganzen Stille?
Sie trabten also los zu jenem Punkt einen knappen Kilometer vor der Front, stellten fest, dass kein Feind zu sehen war und demzufolge keine Gefahr drohte, und begannen zu graben. Am ersten Tag hatten die Deutschen sie schaufeln und hacken lassen, ohne Tarnung (die im Übrigen nicht zu bekommen war), in Sichtweite, in vollem Sonnenschein. Aber am zweiten fanden sie offenbar, dass es reichte.
Pollard ist jetzt seit drei Monaten bei der Armee. Um fünf Uhr am Nachmittag des 8. August hatte er die Versicherungsgesellschaft in der St. James Street verlassen, wo er als Bürokraft gearbeitet hatte, um nie wieder zurückzukehren. Der Entschluss war ihm leichtgefallen. Ein paar Tage zuvor hatte er in einer Menschenmenge vor
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