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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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Geldstrafe. Es heißt «Mutter», nicht «Mama», «auf Wiedersehen», nicht «adieu», «Kladde», nicht «Diarium», «fesselnd», nicht «interessant» und so weiter.) Auch sie selbst jubelt bei der Nachricht vom Fall des Fort Breendonk, nicht weil sie glaubt, dass sie freibekommen, sondern nur, weil es Spaß macht: «Ich finde es wundervoll, aus vollem Halse in einem Haus zu brüllen, in dem man sonst immer still sein muss.» Im Klassenzimmer befindet sich eine Karte, auf der deutsche Siege durch Nadeln mit kleinen schwarz-weiß-roten Fahnen markiert werden. Die Stimmung in der Schule und in Deutschland allgemein ist aggressiv, übermütig, chauvinistisch, triumphierend.
    Nach der Schule nimmt sie an einem kleinen Kaffeekränzchen teil. Elfriedes Eltern sind geschieden. Sie hat keinen Kontakt zu ihrem Vater, und ihre Mutter ist berufstätig, sie betreibt eine kleine Musikschule in Berlin. Deshalb wohnt Elfriede mit ihrem Bruder bei der Großmutter in Schneidemühl.
    Man kommt wie üblich auf den Krieg zu sprechen. Jemand hat auf dem Bahnhof einen neuen Transport russischer Kriegsgefangener gesehen. Früher erregten die Gefangenen Aufsehen «mit ihren langen braunen Mänteln und ihren zerlumpten Hosen», aber jetzt werden sie kaum noch beachtet. Während die deutschen Armeen weiter vorrücken, kommen die Zeitungen mit immer neuen Zahlen von Kriegsgefangenen, einer Art Börsenkurs des Krieges, wobei die Notierung des Tages «Suwalki 27   000» und «westlich von Iwangorod 5800» lautet. (Ganz zu schweigen von anderen, handfesten Siegessymbolen: Die Zeitungen berichten in diesem Monat, dass 1630 Eisenbahnwaggons erforderlich waren, um die Beute abzutransportieren, die nach dem großen Sieg bei Tannenberg gemacht wurde.) Was soll man mit den Gefangenen tun? Fräulein Ella Gumprecht, eine unverheiratete Lehrerin mittleren Alters mit fester Meinung, runden Wangen und onduliertem Haar, weiß Rat: «Warum schießt man die Kerle nicht einfach tot?» Die anderen halten das für eine schreckliche Idee.  17
    Die Erwachsenen tauschen Kriegsgeschichten aus. Fräulein Gumprecht erzählt von einem Mann, der von Kosaken in ein brennendes Haus geworfen wurde, aber fliehen konnte, auf einem Fahrrad, in Frauenkleidern. Die Kinder antworten mit einer Geschichte, von der ihnen ihre Mutter aus Berlin berichtet hat:
     
Ein deutscher Vizefeldwebel der Reserve, in Zivil Professor der romanischen Philologie in Göttingen, musste einen Trupp gefangener Franzosen von Maubeuge nach Deutschland geleiten. Von fern her donnern die Kanonen. Mit einem Mal sieht der diensttuende Leutnant, wie sein Vizefeldwebel mit einem Franzosen in Streit gerät. Der Franzose fuchtelt aufgeregt mit den Händen, und hinter der Brille des Vizefeldwebels funkeln zornig die Augen. Der Leutnant reitet herbei, da er Tätlichkeiten befürchtet. Er fährt mit einem Donnerwetter dazwischen. Da klärt ihn der Vizefeldwebel, noch voller Erregung, auf: Der gefangene Franzose, der seine Stiefel mit Bindfäden zusammengebunden hatte, war Professor an der Sorbonne. Die beiden Herren waren miteinander in Streit geraten, weil sie über die Häufigkeit des Konjunktivs in altprovenzalischen Minneliedern verschiedener Meinung waren!
     
    Alle lachen, Fräulein Gumprecht so sehr, dass sie sich an einem Stück Nussschokolade verschluckt. Die Großmutter aber wendet sich an Elfriede und ihren Bruder: «Kinder, sagt mir, ist das denn nun nicht eine Sünde und Schande, dass zwei Professoren aufeinander schießen müssen? Die Soldaten sollten die Gewehre hinwerfen und sagen: ‹Wir machen nicht mehr mit.› Und sollten nach Haus gehen!» Fräulein Gumprecht empört sich und wird schrill: «Und unser Kaiser? Und unsere deutsche Ehre? Und der gute Ruf unserer deutschen Soldaten?» Die Großmutter erhebt ihre Stimme und antwortet: «Die Mütter sollten alle zum Kaiser gehen und sagen: ‹Jetzt aber Frieden!›»
    Elfriede ist verblüfft. Sie weiß, dass die Großmutter die Nachricht von der Mobilmachung mit Sorge vernommen hatte. Dies ist nämlich ihr dritter Krieg: Zuerst der gegen die Dänen 1864, dann gegen die Franzosen 1870. Und auch wenn die Großmutter genau wie alle anderen fest davon überzeugt ist, dass Deutschland noch einmal siegen und dass der Sieg auch diesmal schnell eintreten wird, kann sie das Geschehene doch nicht für gut halten. Aber so zu reden? Elfriede hat dergleichen noch nie gehört.

12.
    Dienstag, 13. Oktober 1914
    Pál Kelemen verbringt die Nacht auf dem

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