Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
einer der großen Armeekasernen in London gestanden und eine Abteilung von Gardesoldaten vorbeidefilieren sehen, auf dem Weg in den Krieg. Alle hatten hurra geschrien, auch er, aber seine Stimme war von Tränen erstickt gewesen, als die Soldaten in präzisem Takt und mit rhythmisch schwingenden Armen vorbeimarschiert waren. Er weinte nicht vor Stolz, wie so viele andere, auch war er nicht vom plötzlichen Ernst der Stunde gerührt, der Einsicht, dass das Land ohne eigentliche Vorwarnung in den Krieg geworfen worden war, einen großen Krieg zudem, nicht in eines dieser fernen kolonialen Abenteuer, sondern in einen kolossalen Krieg, der die Welt aus den Angeln zu heben versprach. Deshalb riefen manche hurra: Der Krieg stand für das Versprechen einer großen und radikalen Veränderung. Aber auch dies war es nicht, was ihn so sehr erschütterte. Er weinte vor Neid. Er wäre so gern einer von ihnen gewesen. «Warum durfte ich nicht mitgehen?»
Der Krieg bedeutete für Pollard in mehrfacher Hinsicht eine Verlockung. Nicht zuletzt war er seine Arbeit recht leid, und er hatte schon überlegt, ob er auswandern sollte. Er ist einundzwanzig Jahre alt.
Fast drei Stunden lang hatte er mit den anderen in der Warteschlange gestanden. Als die Tore des Kasernengeländes, wo die Rekrutierung stattfand, schließlich geöffnet wurden, hatte er sich mit einem Bekannten aus dem Tennisklub vorgedrängelt und war zum Hauptgebäude gerannt, um Erster zu sein. Denn was, wenn die Zahl der Plätze begrenzt war? Und was, wenn alles zu Ende war, ehe sie die Front erreichten? (Sein Bruder hatte sich zunächst als Freiwilliger bei derselben Truppe gemeldet, war aber bald desertiert, um sich unter einem fremden Namen in einer anderen Einheit rekrutieren zu lassen, nur weil es hieß, diese würde als Erste in den Kampf ziehen.)
Pollard liebte das Exerzieren, fand die langen Märsche «spaßig», konnte sich kaum beherrschen, als er sein Gewehr bekam: «Ich war bewaffnet. Diese Waffe war zum Töten gemacht. Ich wollte töten.» Oft spielte er heimlich mit seinem Bajonett, prüfte die Klinge: «Mein Wunsch, an die Front zu kommen, war zur Besessenheit geworden.» Sie marschierten zu den Klängen eines Blasorchesters durch London. Das Waffentraining bestand darin, fünfzehn Schüsse abzufeuern. Der Befehl zum Aufbruch kam so plötzlich, dass er nicht einmal die Zeit hatte, seine Eltern zu informieren. Als der Zug nach Southampton an einem Bahnhof vorbeikam, warf er eine kurze Mitteilung aus dem Fenster, adressiert an seine Mutter. Sie kam an.
Nach langem Warten ist Pollard nun endlich an der Front. Und gräbt. Sie arbeiten jetzt den zweiten Tag. In der Luft liegt der Duft von Erde und welkendem Laub. Plötzlich ist ein Geräusch zu hören, «wie ein Schnellzug mit unglaublicher Geschwindigkeit», gefolgt von einem metallisch klingenden Knall. Eine Explosionswolke steigt ein Stück weit vor ihnen auf. Auf seinen Spaten gestützt, starrt Pollard sie an, «fasziniert»:
Ich stand tatsächlich unter Beschuss. Mein Puls raste vor Aufregung. Eine zweite Granate folgte auf die erste. Dann eine dritte. Irgendetwas sorgte für Aufregung ein Stück weiter an der Linie. Männer rannten umher. Jemand lief vorbei und rief nach dem Arzt. Ein Volltreffer. Wir hatten unseren ersten Verwundeten.
16.
Freitag, 13. November 1914
William Henry Dawkins sitzt an Bord der Orvieto und schreibt an seine Mutter
Wärme, Meerwind. Das Leben an Bord des Truppentransporters ist wunderbar. Wahrscheinlich hat er noch nie so bequem gelebt wie jetzt. Auch wenn William Henry Dawkins nur frischgebackener Leutnant ist, so ist er doch Offizier, und deshalb wurde ihm eine Kabine in der ersten Klasse zugeteilt, auf einem Schiff, das noch vor gut einem Monat zu den besten und modernsten der Orientlinie zählte. Also gibt es Dusche und Bad, und nebenan liegt der schöne Speisesaal, in dem täglich drei exquisite Mahlzeiten serviert werden: «Unser Essen ist besser als das, was man in den besten Hotels von Melbourne bekommt.» Außerdem spielt eine Schiffskapelle für die uniformierten Passagiere.
Nur der Gestank der Pferde in den Laderäumen stört das Idyll. Und die Hitze, die in dem Maße zunimmt, wie sich die HMAT 23 Orvieto und die anderen Schiffe des großen Konvois unter einer glühenden Sonne weiter nach Norden über den Indischen Ozean bewegen. Er ist an Bord zweiundzwanzig Jahre alt geworden. Ein kurz vor der Einschiffung aufgenommenes Foto zeigt einen sanft
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