Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
Verwundeten zu entfernen. Nur wenige weisen einfache Schusswunden auf, Bajonettverletzungen sind selten. Fast alle seine Patienten sind von Granaten getroffen worden, und fast alle haben multiple Verletzungen. Cushing ist deshalb auch zum Wundexperten geworden und hat unter anderem gelernt, dass sich hinter der kleinsten Eintrittswunde oft die gefährlichste Verletzung verbirgt. Am Horizont sind einige Aufklärungsballons zu sehen. Manchmal fallen in der Nähe Bomben. Wenn Zeit dafür bleibt, spielen sie Tennis auf einem nahegelegenen Platz.
Nach der Mittagspause fahren Cushing und ein Kollege zu den anderen Lazaretteinheiten in der Umgebung, sie besuchen dort Freunde. Das Wetter ist ausnahmsweise einmal trocken und angenehm. Die Geräusche vereinzelten Artilleriefeuers hängen in der Sommerluft. Die Straße von Mont des Cats nach Rémy verläuft auf dem Kamm eines Höhenzugs, und die Aussicht ist bestens. Im Norden kann man die Front um Ypern als eine Kette von Mündungsfeuern erahnen.
Ein kanadischer Oberst zeigt Cushing etwas, auf das er schon lange neugierig war: ein großes dreidimensionales Modell des Schlachtfelds, das aus Sand im Maßstab 1 : 50 angefertigt ist und für die Vorbereitung neuer Angriffe verwendet wird. Alles ist präzise dargestellt: jeder Wald, jedes Haus, jede Höhenlinie. Die eigenen Schützengräben sind mit blauem Band gekennzeichnet, die deutschen mit rotem. Cushing liest die Namen auf den kleinen Schildchen: Inverness Copse, Clapham Junction, Sanctuary Wood, Polygon Wood. Er wird eigentlich nicht recht schlau aus dem Ganzen, aber der Karte nach zu urteilen, wird der nächste Angriff sich gegen Glencourse Wood richten, einen Wald, der wie ein roter Halbkreis aus all den blauen Vertikalen herausragt.
Sie sind nicht die Einzigen, die das Modell studieren. Auch eine Reihe von Offizieren und Unteroffizieren versucht, sich das Gelände einzuprägen. Morgen sollen diese Männer «über den Berg gehen».
Cushing und sein Kamerad kehren rechtzeitig zum Abendessen zurück. Ganz unerwartet verschwindet der Chef der Einheit mit Cushings ungelesenem Exemplar der gestrigen Times . Als Cushing danach fragt, weist der Offizier – die Zeitung hinter dem Rücken verbergend – auf ein an der Tür der Messe angebrachtes Armeebulletin. Cushing ist verärgert, er versteht von diesem verschlüsselten Dokument mit seinen Kodewörtern und Kartenkoordinaten kaum ein Wort:
Gegen Mitternacht liegt Cushing in seinem Zelt und hört, wie das schwere Sturmfeuer in der Ferne aufbraust. Kurz danach beginnt wieder mal der Regen aufs Zeltdach zu trommeln.
***
Am nächsten Tag wird Cushing berichtet, dass zwischen dem 23. Juli und dem 3. August 17 299 Fälle von den drei hiesigen Feldlazaretten zur weiteren Behandlung an andere Orte geschickt oder gesundgeschrieben wurden. (Die Toten sind in dieser Zahl selbstverständlich nicht mitgerechnet.) In der 5. Armee gibt es noch zwölf weitere solcher Feldlazarette.
160.
Ein Tag Ende August 1917
Herbert Sulzbach hat Nachtdienst am Chemin des Dames
Was sein Liebesleben betrifft, ist es für Herbert Sulzbach ein gutes Jahr gewesen. Umgänglich wie er ist, spürt er, dass er bedeutend leichter Kontakt zu Frauen findet als vor dem Krieg. Seine Offiziersuniform schadet dabei nicht. Im Moment unterhält er Beziehungen zu zwei Frauen gleichzeitig: eine in Bonn – er traf sie auf einer Zugfahrt – und eine in Frankfurt am Main. Aber das ist bisher auch das einzig Gute an diesem Jahr 1917.
Sein Freund Kurt Reinhardt ist bei der Fliegertruppe angenommen worden, und das bestärkt Sulzbach in seinem Entschluss, selbst Pilot zu werden. Die beiden träumen davon, im gleichen Verband zu fliegen.
Den Sommer hat er hauptsächlich am Chemin des Dames verbracht, in der Nähe einer berüchtigten Stellung, einer vollständig zerschossenen Anhöhe, die von den deutschen Soldaten Winterberg genannt wird. Der Dienst ist unangenehm und wie immer gefährlich, aber trotzdem irgendwie erträglich gewesen. Nach den ersten wütenden Angriffen im April und Anfang Mai sind die Franzosen sonderbar ruhig geblieben. Die Artillerieduelle gingen jedoch in gewohnter Weise weiter, ohne dass eine der beiden Seiten sich von der Stelle bewegt hat. Es ist, als sei das Bombardement ein bloßer Reflex geworden, eine schlechte Angewohnheit.
Wenn Sulzbach sich zu seinem Beobachtungsposten begibt, kommt er an einigen ausgebrannten Tankwracks vorbei, die an den französischen Durchbruchsversuch
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