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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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Russland. Vor drei Tagen hat in St. Petersburg ein Staatsstreich stattgefunden, unter der Führung einer der revolutionären Fraktionen, der Bolschewiken. Unruhen haben sich ausgebreitet. Das Bild ist noch unklar und widersprüchlich und vieles basiert auf Gerüchten, aber die Bolschewiken scheinen tatsächlich St. Petersburg zu kontrollieren, während die Kerenskij-Regierung Moskau hält. «Unsere schlimmsten Befürchtungen haben sich bestätigt: Im freien Russland bricht ein Bürgerkrieg aus.»
    Am frühen Nachmittag macht jemand eine schreckliche, aber nicht unerwartete Entdeckung. Der Bauch des Leutnants beginnt sich zu verfärben. Trockener Brand. Sein Tod ist nur noch eine Frage von Stunden.
    Florence wacht die ganze Nacht bei ihm, lässt die Verwundeten, die neu eingeliefert werden, von den Assistenten versorgen. Der Leutnant sinkt schnell in Bewusstlosigkeit, dem Tod entgegen. Einige Male ruft er nach seiner Mutter. Florence kann nichts anderes tun, als ihn mit hohen Dosen Morphium zu betäuben.
    Der Leutnant stirbt um halb sechs am Morgen, und seine Leiche wird in einen kleinen Raum getragen. Florence sieht ihn, oder, besser gesagt, seinen toten Körper dort liegen, mit geschlossenen Augen und gefalteten Händen. Neben ihm sitzt sein Bursche, mit starrem, bleichem Gesicht. Artilleriefeuer ist ganz in der Nähe zu hören, aber das scheint den Burschen nicht zu kümmern.
    Danach schreibt Florence in ihr Tagebuch:
     
Ich weiß nicht, wie lange ich noch durchhalte. Ich habe immer gehofft, dass meine Kriegserfahrungen, trotz all des Elends und all der Bitterkeit, meinen Geist stimulieren, meine Fähigkeit zum Mitgefühl steigern, «die Güte meiner Seele stärken» würden. Aber jetzt möchte ich an einen ruhigen Platz, an dem Frieden herrscht.
***
    Am selben Tag besucht Willy Coppens die Feier einer britischen Fliegereinheit in Uxem. Er ist eingeladen, weil er in einen Luftkampf zwischen zwei britischen und sieben deutschen Flugzeugen eingegriffen und durch seine überraschende Intervention die deutschen Piloten dazu gebracht hat, ihren Angriff abzubrechen. Er berichtet:
     
Das Dinner war sehr lebhaft. Der Ausdruck von Dankbarkeit auf Seiten der Flieger, die ich vor dem deutschen Geschwader gerettet hatte, steigerte sich in dem Maße, wie wir von den reichlich vorhandenen Getränken zu uns nahmen. Ich war selbst immer mehr davon überzeugt, wirklich ein Held zu sein, worin mich die Beteuerungen der anderen und verschiedene alkoholhaltige Mischungen bestärkten.
     
    Als er schließlich auf dem Motorrad zu seiner eigenen Basis zurückkehrt, ist Coppens sehr betrunken und ruft immer wieder laut in die kalte Nacht, dass er ein Held sei. Seine Kameraden nageln die Tür zu seinem Zimmer zu, und als der Morgen kommt, muss er durchs Fenster steigen, um hinauszugelangen.

170.
    Mittwoch, 14. November 1917
    Harvey Cushing fährt im Zug von Paris nach Boulogne-sur-Mer
     
    Es wird immer beschwerlicher, mit dem Zug zu fahren. Wenn man sicher sein will, einen Platz zu bekommen, sollte man am besten eine Stunde vor Abfahrt am Bahnhof sein. Im Zug herrscht das Gesetz des Dschungels, zumindest was die Sitzplätze angeht. Harvey Cushing hat eine seiner vielen Reisen nach Paris unternommen, wo er in Komitees mitarbeitet, die sich für die Verbesserung des militärischen Sanitätswesens einsetzen und über neue Behandlungsmethoden aufklären. Er hat sie also noch, seine praktische und professionelle Veranlagung, die ihn einst nach Frankreich gebracht hat.
    Doch heute ist Cushing mit anderem beschäftigt, als er so in dem schaukelnden Zug sitzt, der ihn nach Boulogne-sur-Mer bringen soll und in das Krankenhaus, in dem er gerade zu arbeiten begonnen hat. Es ist kurz nach zehn.
    Die Menschen, die mit Cushing im Abteil sind, deuten in ihrer Vielfalt an, wie groß und kompliziert dieser Krieg geworden ist. Da sitzt ein französisches Paar in mittleren Jahren, sie in ihren Reiseschal gehüllt und er in seine Morgenzeitung versunken. Außerdem einige russische Militärs, einer davon mit mächtigen weißen Koteletten. Dazu kommen belgische Soldaten, leicht zu erkennen an den kleinen Troddeln, die von ihren Mützen baumeln, und die Cushing «albern» findet. Auf dem Gang draußen steht ein portugiesischer Offizier mit einer säuerlichen Miene (Cushing vermutet, dass er den Platz des Mannes besetzt hat). Und schließlich ein Flieger in dunkelblauer Uniform. Er liest das Magazin La Vie Parisienne , das für seine gewagten Zeichnungen

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