Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
Männer, runter!» Alle bleiben stehen. Arnaud späht nach vorn. Sie liegen auf dem höchsten Punkt einer langen Steigung und können den ganzen Weg vor sich bis zum Fluss überblicken. Von Feinden ist nichts zu entdecken. Doch, noch weiter entfernt, unter einem Baum, sieht er die kubische Form eines deutschen Tanks. Er macht jedoch keine Anstalten, sich zu bewegen. Arnaud beschließt, dass es genug ist:
Ein unerfahrener Offizier, noch neu an der Front, den Kopf voll mit den Theorien der Felddienstordnung, würde vermutlich annehmen, dass er den Vormarsch fortsetzen müsste und hätte auf diese Weise den Großteil seiner Männer verloren. Aber 1918 hatten wir genügend Erfahrung mit der Realität des Schlachtfelds, um rechtzeitig innezuhalten. Die Amerikaner, die gerade bei Château-Thierry, in unmittelbarer Nähe, an die Front gekommen waren, hatten aus erklärlichen Gründen nicht diese Erfahrung, und wir wissen alle, welch ungeheure Verluste sie in den ersten Monaten, in denen sie aktiv waren, erlitten.
Arnaud übergibt einem seiner Fähnriche – Leutnant Robin ist am Arm verwundet worden – das Kommando und kehrt zurück, um Bericht zu erstatten. Der Auftrag ist ausgeführt.
Gegen Abend werden sie abgelöst und können sich danach wieder mit ihrem Regiment vereinigen.
Später erfährt Arnaud, dass ihn eine neue Aufgabe erwartet. Er soll die Führung des Bataillons übernehmen. Der Major, der bis dahin den Befehl geführt hat, ist verwundet worden. Ein Melder berichtet: «Der verfluchte Kerl hat einen kleinen Splitter in die Hand bekommen und ist sofort abgehauen. Der Scheißkerl; die Wunde hätte nicht einmal meinen Sohn daran gehindert, in die Schule zu gehen.»
201.
Sonntag, 23. Juni 1918
Olive King wird in Saloniki dekoriert
Es ist ein heißer Tag voller Enttäuschungen. King weiß, dass sie wieder einmal dekoriert werden soll – jetzt mit der serbischen Goldmedaille für vorbildliches Verhalten – und dass die Zeremonie um zehn Uhr stattfindet. In der Annahme, dass sie rechtzeitig erscheint, wenn sie um neun aufsteht, hat sie bis drei Uhr nachts an einem Bericht geschrieben. (Sie will unbedingt eine Marketenderei für die unterbezahlten und häufig unterernährten serbischen Fahrer aufmachen, mit denen sie arbeitet.) Doch schon um sechs wird sie von einem lauten Klopfen an ihrer Tür geweckt. Ein kleines Gesicht schaut durchs Fenster und teilt ihr mit, dass sie bei der Garage erwartet wird. Sie nimmt schnell ein Bad und macht sich auf den Weg.
Die Zeremonie findet tatsächlich um Punkt zehn Uhr statt. Ein Oberst hält eine lange Rede, in der er ihre Verdienste hervorhebt, worauf er die runde, goldglänzende Medaille an ihrer Brust befestigt. King erkennt eine kleine Schachtel auf dem Tisch daneben und denkt einen Moment, dass es noch eine weitere Auszeichnung gibt. Aber sie wird enttäuscht. Gegen halb zwölf folgt die nächste Enttäuschung. Artsa, einer der serbischen Fahrer, hat versprochen, ihr dabei zu helfen, den serbischen Pionieren, die die Feldküche bauen sollen, die Bauzeichnungen zu erklären. Doch er erscheint nicht wie geplant. Hungrig, da sie in der morgendlichen Eile keine Zeit hatte zu frühstücken, beschließt sie, zum Mittagessen zu gehen. Aber da erscheint die Frau, die ihre Hütte putzt, unangemeldet zum wöchentlichen Saubermachen. King muss bleiben. Der Nachmittag verläuft so lala, und als die Post kommt, hofft sie auf einen Brief von ihrem Vater. Aber: nichts.
Enttäuschungen, im Großen wie im Kleinen. Von kleineren Kampfhandlungen abgesehen hat sich an der Salonikifront noch nichts getan. An ein Ende des Stillstands ist nicht zu denken, schon deshalb nicht, weil gerade 20 000 französische und englische Soldaten eingeschifft wurden, um in Frankreich die neue deutsche Offensive aufzuhalten. (Es gibt Gerüchte, dass die Bulgaren einen Angriff vorbereiten. Das haben einige Überläufer erzählt.)
Olive King ist erschöpft, zornig und gereizt. Sie hat Heimweh. Seit dreiunddreißig Monaten ist sie nun schon hier, ohne Unterbrechung oder Urlaub. Doch nicht nur die Monotonie in Saloniki und die simplen Tücken des Alltags zehren an ihr. Wieder ist eine Liebe in die Brüche gegangen. In ihrer Trauer wegen Jovi hat sie sich einem anderen Serben zugewandt, mit dem sie arbeitete, eben jenem Artsa. Ihre Romanze wurde ernst, und er hielt um ihre Hand an. Olives Vater verbot die Heirat, und sie hat sich gebeugt – ohne Bitterkeit, wie es scheint.
Etwas in ihr ist
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