Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
am Ende. Wenn sie also in einem früheren Brief gegen ihre alte Gewohnheit plötzlich ideologisch geworden ist und ganz unerwartet über Geopolitik und Kriegsziele zu predigen begonnen hat, kann man ahnen, dass die Predigt letztlich an sich selbst gerichtet war. Ein Versuch, mit Worten das Leck, durch das die Energie aus ihrer Seele entweicht, abzudichten:
Offensichtlich gibt es noch immer Millionen Menschen, die nicht wissen, warum Deutschland in den Krieg gezogen ist. Sie haben eine vage Vorstellung davon, dass das Land einen Zugang zum Meer brauchte, und folglich machte man sich über Belgien her. Die Deutschen wollen Belgien und auch Holland, aber nicht aus dem gleichen Grund, wie sie Serbien haben wollen, nämlich um sich mit der Türkei zu vereinigen. Die einzige Möglichkeit, das britische Empire zu retten, besteht darin, den jugoslawischen Traum von Einheit zu unterstützen und einen starken, freundlich gesinnten Staat als dauerhaftes Hindernis für diesen Marsch nach Osten zu errichten.
Jetzt ist es Abend, und Olive King sitzt bei geöffneten Fenstern und Türen in ihrer kleinen Holzhütte. Es ist schwül und warm. Der kühlende Wind der letzten Tage ist plötzlich abgeflaut. Gerade im Augenblick ist sie «müde und [hat] alles satt». Sie träufelt Eau de Cologne auf ihre Füße und spürt, wie die Feuchtigkeit mit einem kurzen kühlen Hauch verfliegt.
202.
Sonntag, 30. Juni 1918
Harvey Cushing diskutiert in Paris über die Zukunft
Draußen: ein strahlend warmer, schöner Sommertag. Drinnen: Finsternis. Der Mann, der dafür sorgt, ist Édouard Estaunié, ein sechsundfünfzigjähriger Schriftsteller, der vor dem Krieg mit psychologischen und sozialkritischen Romanen Erfolg hatte. (Er gehört der gleichen Generation an wie Marcel Proust und wird zuweilen in einem Atemzug mit Anatol France und Louis Bertrand genannt.) 20 Das Haus ist leer und still. Estaunié hat seine Familie fortgeschickt, fort von den fast täglichen Angriffen durch deutsche Nachtbomber und jener Kanone mit der enormen Reichweite.
Auch Cushing musste die Luftangriffe miterleben. Als er mit einem Kollegen vor einigen Tagen des Abends in Paris ankam, wurde ihre Metrofahrt vom Fliegeralarm gestoppt. Später konnten sie von einem Balkon des Hotel Continental mit Blick auf die Tuilerien den Angriff beobachten: «Gotha-Maschinen – hell – Schrapnells – dann und wann die Explosion und die Feuerflamme einer Bombe – ein kleiner Brand – ein pechschwarzes Paris.» Und sie haben den Place Vendôme überquert, wo die Trottoirs mit Glasscherben und die Häuserfassaden mit Löchern von Granatsplittern übersät waren. Es sind nicht diese schon seit Monaten andauernden Angriffe, die Estaunié so deprimieren, wie er da an seinem Schreibtisch sitzt, auch wenn sie natürlich ihren Teil beitragen. Nein, es ist die allgemeine Kriegslage.
Vor gut einem Monat begann die dritte deutsche Offensive seit Ende März, diesmal nordöstlich von Paris. Noch einmal zeigten die Deutschen, dass sie die alliierten Linien durchstoßen konnten, wo es ihnen beliebte. Diesmal rückten sie schneller vor denn je. Vor rund zwei Wochen machten sie halt. Jetzt stehen sie nur siebzig, achtzig Kilometer vor Paris. Alle erwarten, dass sie ihren Vormarsch bald fortsetzen, die französische Hauptstadt wird ihr nächstes Ziel sein.
Ein Kollege namens Cummings 21 , der mit Estaunié bekannt ist, hat Cushing mitgenommen zu diesem Besuch. Die drei hören nicht auf, vom Krieg zu reden. Estaunié ist entsetzt und deprimiert über die Zerstörung, die in den letzten Monaten mehrere große französische Städte heimgesucht hat: «Zuerst Reims, dann Amiens, jetzt Soissons, und bald auch Paris.» Estaunié glaubt sogar, dass Paris vor dem Fall steht. Und er ist davon überzeugt, dass nur noch eine letzte heroische Kampfanstrengung vonnöten sei: «Lieber dem Feind entgegentreten und 40 000 Mann verlieren, als sie bei einem Rückzug wie dem jüngsten zu verlieren.» Cushing und Cummings versuchen dagegenzuhalten. Die Armee müsse um jeden Preis weiterkämpfen. Nein, erwidert Estaunié, sehen Sie sich die belgische Armee an oder die serbische; sie kämpfen weiter, aber ihre Länder existieren nicht mehr. Frankreich wird auch untergehen, aber es wird im Kampf bis zum letzten Mann untergehen. C’est effroyable .
Die beiden Amerikaner suchen weiter Gegenargumente – die amerikanische Armee in Frankreich gewinne doch ständig an Schlagkraft. Cushing hat gehört,
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