Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
dass inzwischen fünfzig Divisionen gelandet seien, 750 000 Mann. Mit einer solchen Verstärkung sollte es doch möglich sein, den deutschen Ansturm aufzuhalten. Und dann diese tödliche Grippe, die sich oben in Flandern gerade ausbreitet, die soll den feindlichen Armeen schon heftig zugesetzt haben. Es ist schwer, den Pessimismus des Franzosen zu erschüttern. Estaunié wird philosophisch: Die Geschichte zeige, dass im Kampf zwischen dem Recht und der Barbarei stets die Barbarei triumphiere.
Bedrückt treten Cushing und sein Kollege in die flimmernde Sommersonne hinaus, während ihnen die düsteren Prophezeiungen des Franzosen noch in den Ohren klingen. Sie sind nur einen Spaziergang vom Eiffelturm, vom Arc de Triomphe und den übrigen Sehenswürdigkeiten entfernt. Den ganzen Nachmittag wandern sie in der Pariser Innenstadt umher, begierig, sich so viel wie möglich im Gedächtnis einzuprägen. Beide haben das Gefühl, dies alles vielleicht zum letzten Mal zu sehen.
203.
Montag, 15. Juli 1918
Herbert Sulzbach nimmt an der Eröffnung der großen Offensive an der Marne teil
Es ist genau zehn Minuten nach Mitternacht. Im Sommerdunkel flammen Mündungsfeuer auf, so viele, dass sie zu einer einzigen riesigen Aura aus Licht zu verschmelzen scheinen, die hastig auflodert und ebenso hastig wieder verlischt. Dann, den Bruchteil einer Sekunde später: das Krachen der abertausend Abschüsse, zu einem einzigen brausenden Donner vereint. Danach: die gezackten, gedämpften Blitze der Explosionen in der Ferne, die sich kurz darauf mit dem dumpfen, in die Länge gezogenen Prasseln der Einschläge vermischen.
Eine dritte deutsche Offensive hat begonnen, diesmal an der Marne. Die Stoßrichtung des Angriffs ist Reims. Vielleicht fällt jetzt die Entscheidung?
Inzwischen kennt Herbert Sulzbach die Geräusche, die Abläufe, die Zeichen. Die Division, der sein Bataillon angehört, die 9., ist eine sogenannte Eingreifdivision, ein erfahrener und zuverlässiger Eliteverband, genau für diese Art von Durchbruchsoperationen ausgerüstet und ausgebildet. Sulzbach ist ausgesprochen stolz, auch darauf, an der erfolgreichen Märzoffensive wie an der Fortsetzung im Mai, um Aisne, beteiligt gewesen zu sein, als man in gleicher Weise den Chemin des Dames überrannte.
Wie üblich waren die Vorbereitungen extrem aufwendig, nicht zuletzt für ihn selbst. Früh aufstehen, und oft erst gegen halb drei oder drei Uhr ins Bett. Er ist müde, sie alle sind müde. Obwohl sie seit Mitte Juni nicht im Kampf gewesen sind, wurde die meiste Zeit für Übungen und Training und Präludien zum nächsten Angriff verwendet. Wirklich Ruhe hatten sie nie. Und es lässt sich nicht verhehlen, dass sie hohe Verluste erlitten haben. Einunddreißig Offiziere des Bataillons sind gefallen seit Beginn der Offensive im Mai. (Außerdem wütet noch immer diese Grippe.)
Sulzbach bleibt sich jedoch treu und ist optimistisch, auch wenn sein Optimismus inzwischen etwas Demonstratives hat. Er ist sich seiner selbst sicher, er vertraut dem Bataillon, der Armee, er hat keine Angst vor dem, was sie erwartet. Zuerst das Sturmfeuer, exakt und effektiv. Dann der Sturm der Infanterie, alles gemäß den Prinzipien des Infiltrationsangriffs. Und am Ende der Sieg! Es heißt, der Kaiser sei vor Ort, um höchstpersönlich Zeuge dieses entscheidenden Angriffs zu werden.
Sie hatten in einem Nadelwald ihr Lager aufgeschlagen. Der Boden ist weiß wie Kalk. Es ist heiß. Sulzbach denkt oft an Kurt.
Von 1.10 Uhr bis 4.49 Uhr hämmern alle denkbaren Typen und Kaliber der deutschen Artillerie auf die französischen Schützengräben und Verbindungslinien ein, auf Geschützstellungen, Maschinengewehrnester und Munitionslager, auf Stäbe, Sturmhindernisse und Beobachtungsplätze, auf Straßenkreuzungen, Brücken und wichtige Wegstrecken, alles nach einem mathematisch exakt ausgearbeiteten Plan. Die Granaten regnen herab. Das in die Länge gezogene Hämmern der vergangenen Jahre ist von einer neuen Taktik abgelöst worden, die auf maximaler Feuerkraft über einen kürzeren Zeitraum basiert – und stets in der Nacht. Man strebt eine gleichermaßen psychologische wie materielle Wirkung an. Auch wenn bald der Tag dämmert, ist es schwer, etwas zu erkennen, wegen des Rauchs überall. Um 4.50 Uhr beginnt dann Stufe zwei – kriechendes Sturmfeuer. Doch erst nachdem man eine letzte Kriegslist angewandt hat: das Feuer auf die feindlichen Schützengräben wird kurzfristig eingestellt und die
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