Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
Jahren der Gefangenschaft zugelegt hat, fügt er schließlich hinzu: «Die Forderungen des Überlebens und die Jagd auf Essen und Geld und die allgemeine Organisierung von Intrigen und Plänen und diesem und jenem nahmen einen großen Teil unserer Aufmerksamkeit in Anspruch.» 24
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Am selben Tag, dem 16. Juli, schreibt Herbert Sulzbach ins Tagebuch:
Unsere Stimmung ist entsetzlich, wir sehen ja überhaupt nicht, was vor sich geht, ahnen nur, dass diese große Offensive nicht geklappt hat! Richtige Ruhe haben wir eigentlich seit Soissons nicht mehr gehabt …
205.
Freitag, 26. Juli 1918
Michel Corday betrachtet Frauen auf einer windigen Straße in Paris
Am Morgen sitzt Corday im Zug nach Paris. Wie immer belauscht er die anderen Fahrgäste im Abteil. Jemand sagt: «Wir rücken überall vor!» Ein französischer Leutnant hält einem amerikanischen Soldaten (den er nicht kennt und der vermutlich noch nicht einmal Französisch versteht) die aktuelle Zeitung hin, zeigt auf die Schlagzeilen und sagt: «Ausgezeichnet!»
Ein Herr in Zivil kann sich kaum halten vor Entzücken über die letzten militärischen Erfolge. Mitte des Monats hatten die Deutschen eine neue Offensive gestartet, diesmal an der Marne, die aber inzwischen von schweren alliierten Gegenangriffen gestoppt wurde. Und jetzt hat der Feind seinen Vormarsch beendet und sich über den Fluss zurückgezogen. Die Deutschen haben es darauf angelegt, den Krieg mit einem einzigen tödlichen Schlag zu gewinnen, und sind gescheitert. Der Misserfolg steht jedermann sichtbar vor Augen, nicht zuletzt den Lehnstuhlstrategen in Zivil. Das Ergebnis des deutschen Wagemuts sind einige auf der Karte imponierende Einbuchtungen in der alliierten Frontlinie, die aber in Wahrheit Schwachstellen sind. Corday hört, wie der enthusiastische Herr einem etwas skeptischen Hauptmann die neue, unerwartete Lage erklärt:
«Ich sage Ihnen, es sind 800 000 Mann, die dabei draufgehen werden.» Der Hauptmann wandte ein: «Sind Sie sicher?» Der andere erwiderte: «800 000, ich schwöre es. Kein Mann weniger. Und wir werden die ganze Bande fangen!» Er lehnte sich zurück und verfolgte mit dem Finger die Operation auf der Karte, die auf der Titelseite der Zeitung abgedruckt war: «Sehen Sie! … Und hier … und dort!» Der Hauptmann war überzeugt. Er sagte: «Die sind wirklich erledigt! Das muss sie in Rage bringen. In deren Haut möchte man nicht stecken …»
Am selben Tag erfährt Michel Corday von einer Frau, die zu Beginn des Krieges in Lille gestrandet war, hinter den deutschen Linien, der es aber gelang, zu ihrem Mann zurückzukehren. Irgendwann hörte ihr Mann, wie sie die deutschen Offiziere «wegen ihres ritterlichen Auftretens» rühmte. Da tötete er sie mit einem Rasiermesser. Er ist freigesprochen worden.
Später geht Corday mit einem Freund eine Straße in Paris entlang. Es weht ein heftiger Wind. Der Freund ist bestens gelaunt, da er am Morgen gute Nachrichten von seinem Sohn erhalten hat, einem Fähnrich in der Armee. Und seine Laune wird auch nicht getrübt, als er sieht, wie der Wind an den Kleidern der promenierenden Frauen zerrt. Alles hat sich durch den Krieg verändert, auch die Damenmode. Ideologische, aber vor allem praktische Gründe haben im Laufe der Zeit dazu geführt, dass die Farben gedämpfter, die Stoffe schlichter, die Modelle funktioneller geworden sind, mehr auf Arbeit und Aktivität zugeschnitten. Und die Veränderung betrifft nicht nur das Äußere. Die reich verzierten Unterröcke, die es vor dem Krieg gab, sind verschwunden und ersetzt worden durch kleinere, weniger kunstvolle Modelle, die robuster sind; das fast fanatisch Kurvige, das ein Erbe des 19. Jahrhunderts war und starre, steife Korsetts erforderte, ist aus der Mode gekommen. Die Linien sind immer gerader geworden. Und nie waren die Kleider kürzer als jetzt, nie waren sie aus so leichtem, dünnem Material gefertigt. Die Damen auf der Straße haben Mühe, ihre Kleider vor dem starken Wind zu schützen. Eine junge Frau spaziert vor Corday und seinem Freund. Ein plötzlicher Windstoß hebt ihr Kleid bis zur Taille, und der Freund lächelt vergnügt.
206.
Ein Sommertag 1918
Paolo Monelli schreibt über das Leben hinter Stacheldraht in Hart
Er hat zweimal versucht zu fliehen – das erste Mal nur zehn Tage nach seiner Ankunft in jenem Schloss in Salzburg. Zweimal hat man ihn wieder eingefangen.
Manche haben sich mit der Gefangenschaft abgefunden, fest
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