Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
Mittag.» Manche fangen an, von Essen zu reden. «Plan- und ziellos in nervöser Hast strömte alles weiter.»
Das Finale erfolgt vor dem Hauptquartier der Flottenstation. Das ist der letzte kritische Moment. Jetzt soll das Ergebnis der Verhandlungen mit dem Kommandanten, Admiral von Krosigk, verkündet werden.
Es herrscht absolutes Schweigen, als ein Mann auf eine große Statue vor dem Gebäude klettert. Admiral von Krosigk hat den Forderungen in allen Punkten nachgegeben: «Die Forderungen werden akzeptiert!» Jubel, Beifall. Es geht um bessere Essensrationen, bessere Urlaubsbedingungen, die Bildung besonderer Komitees zur Überwachung der Kriegsgerichte, Lockerung der Disziplin, 38 Freilassung der Matrosen, die bei Beginn der Meuterei verhaftet wurden. Irgendjemand ruft: «Nieder mit Kaiser Wilhelm!» Der Redner ignoriert ihn. Ein Werftarbeiter mit einem, so Stumpf, «wahrhaft klassischen Apachengesicht» erscheint, tritt vor und fordert die Errichtung einer «Sowjetrepublik». Beifall. Der erste Redner ermahnt alle, auf ihre Posten zurückzukehren. Gelächter.
Dann zerstreut sich die Menge.
«Alles stürzte davon in der Richtung, in welcher ein gefüllter Essnapf zu finden war.»
***
Am selben Tag, dem 4. November, erlebt Herbert Sulzbachs Division die erbarmungslosesten Angriffe des ganzen Krieges. Er schreibt ins Tagebuch:
Ein guter Teil unserer Division ist gefangen, und wir müssen versuchen, hier noch Widerstand zu leisten. Vom II./I.R. 19 kommt nur ein Hauptmann als Einziger seines Bataillons zurück. Von meinem Regiment sind fünf Batterien in Feindeshand, meine Abteilung hat bis jetzt noch keine Verluste. – Was für eine Fügung!»
220.
Samstag, 9. November 1918
Herbert Sulzbach sieht über Beaumont Bomben fallen
Der Rückzug geht weiter. Sie marschieren die ganze Nacht, in Dunkelheit und strömendem Regen, auf einer ausgefahrenen und verschlammten Straße, die mit endlosen Kolonnen deutscher Truppen verstopft ist. Stehenbleiben ist nicht möglich. Teils, weil das die sich windende Schlange von Menschen, Pferden, Wagen und Kanonen, die ihnen folgt, aufhalten würde, teils, weil irgendwo hinter ihnen der Feind ist.
Um drei Uhr in der Nacht erreichen sie eine kleine Stadt. Beaumont? Ja, jemand kann bestätigen, dass dies Beaumont ist. Man hat also Frankreich verlassen und steht jetzt auf belgischem Boden. Es ist eine deprimierende Nachricht, eine weitere Bestätigung der Niederlage.
Der nächste Morgen. Das graue Wetter der letzten Tage hat sich verzogen, und die wärmende Sonne steigt am Himmel auf. Man bleibt in Beaumont, um sich ein wenig auszuruhen, aber vor allem, um sich mit Proviant einzudecken. Es liegen große Vorräte hier, die die Armee unmöglich abtransportieren kann, deshalb werden Konserven und andere Nahrung großzügig an die Soldaten verteilt. Zwei deutsche Frauen, die in Beaumont in der Administration beschäftigt waren, schließen sich Sulzbachs Kolonne an.
Feindliche Flugzeuge brummen heran, werfen Bomben ab. Die Straßen sind mit zurückmarschierenden Soldaten so überfüllt, dass es unter ihnen zwangsläufig zu hohen Verlusten kommt.
Gerüchte gehen um. Erschöpft, demoralisiert und verwirrt, leben sie in einer Art Scheinwelt, in der nichts gewiss ist außer dem, was sie anfassen können. Die Flotte hat revoltiert, der Kaiser hat abgedankt, der Kronprinz hat abgedankt. Deutschland ist jetzt eine Republik. Sulzbach stellt fest, dass die Etappensoldaten von der gleichen defätistischen und aufrührerischen Stimmung ergriffen sind wie so viele Menschen zu Hause. Doch es sieht so aus, als seien die Frontsoldaten nicht davon berührt. Noch nicht. Gegen Abend trifft ein berittener Melder ein. Er kann bestätigen, dass die Gerüchte zutreffen: Die Flotte hat tatsächlich revoltiert, der Kaiser und der Kronprinz haben abgedankt, Deutschland ist jetzt eine Republik.
Sulzbach ist traurig, wütend, beklemmt, schockiert. «Man weiß noch nicht, ob man träumt oder ob es Wahrheit ist, die man erlebt. Die Ereignisse haben sich so überstürzt, dass man sie gar nicht fassen kann.»
221.
Mittwoch, 13. November 1918
Pál Kelemen kehrt nach seiner Demobilisierung nach Budapest zurück
Dämmerung. Das Hämmern der Schienenstöße. Die Eisenbahnfahrt geht weiter. Sie begann vor einigen Tagen, als der Stab und die letzten Soldaten der Division den Zug in Arlon bestiegen, spät in der Nacht, im Licht von Taschenlampen. Seitdem rollen sie, ruckweise und
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