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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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nicht wecken will, legt er sich in der Garderobe in der Halle schlafen.

Das Ende
    So ging es schließlich zu Ende.
    Elfriede Kuhr war noch immer am selben Ort wie zu Beginn des Krieges vor vier Jahren: in Schneidemühl. Und eine bestimmte Szene wiederholte sich: Menschentrauben drängten sich vor den Zeitungsredaktionen, und genau wie 1914 wurden die neuesten Meldungen auf handgeschriebenen Zetteln – mit Blaustift auf Druckpapier – bekanntgegeben. Im Unterschied zu damals war jedoch das Durcheinander viel größer, und es herrschte kaum noch Einigkeit. Elfriede sah einen Jungen weinen, er hatte etwas gesagt, das einem der Zeitungsleser offenbar nicht gefiel, und der hatte ihm eine Ohrfeige verpasst. Es gab weniger Hurrarufe, die Diskussionen waren umso heftiger. Soldaten zogen Arm in Arm und singend die Straße hinunter. Einem Leutnant, der sie anbrüllte, wurde die Uniformmütze vom Kopf geschlagen. Mit bleichem Gesicht fischte er sie aus dem Rinnstein. Einige Zivilisten nannten die Soldaten Vaterlandsverräter. Elfriede lief nach Hause, kurz darauf klingelte es an der Tür. Es war Androwski, der Freund ihres Bruders, der sich auf einen Stuhl fallen ließ und sagte: «Der Krieg ist tot! Es lebe der Krieg!» Wenig später kam auch ihr Bruder. Ihm fehlten Mütze und Koppel, seine Uniformjacke war zerfetzt, die Knöpfe abgerissen, die Achselstücke ebenfalls, und sein Kragen hing herunter. Schock und Verwirrung standen ihm ins Gesicht geschrieben. Androwski musste lachen bei diesem Anblick, und bald fing auch der Bruder an zu lachen.
    Herbert Sulzbach war gerade zwischen Beaumont und Sart-Eustache in Belgien. Am Morgen kam der Befehl, dass ab elf Uhr alle Kampfhandlungen eingestellt werden sollten. Er las ihn schweren Herzens seiner Truppe vor. Immer wieder hatte er von diesem Tag geträumt, und vom Frieden. In seiner Phantasie war es immer der Höhepunkt seines Lebens gewesen. Er hatte sich vorgestellt, wie sie in Frankfurt am Main einzogen, um sich von den gleichen Menschenmassen feiern zu lassen, die sie an jenem Augusttag vor vier Jahren jubelnd hatten abmarschieren sehen. (Vor vier Jahren? In diesem Herbst ist es ihm manchmal so vorgekommen, als wären es zwanzig gewesen.) Aber stattdessen – das hier? Das Gegenteil des Traums, seine Negation: «Nun stehen wir hier gedemütigt, innerlich zerfleischt.» Am nächsten Tag setzten sie ihren Marsch zur deutschen Grenze fort. Erst ein paar Tage später wird ihm bewusst, dass er tatsächlich fünfzig Monate Frontdienst ohne eine einzige Schramme überstanden hat. Ein Funken Freude leuchtet in ihm auf.
    Richard Stumpf befand sich noch in Wilhelmshaven. Was einst als Verrücktheit angefangen hatte, endete in Hysterie. Es ging das Gerücht, sie seien verraten worden und kaisertreue Truppen seien unterwegs: «Auf der Straße ging es wüst zu. Von allen Seiten rannten Bewaffnete durchs Tor, selbst einzelne Weiber schleppten Patronenkisten. Furchtbarer Wahn! Muss es so enden? Nach fast fünf Jahren mörderischen Kampfes richten wir noch die Gewehre auf unsere eigenen Volksgenossen.» Später wurde er durch den Lärm von Jubelrufen, das Tuten von Schiffssirenen, durch Gewehr- und Kanonenschüsse aus seinen Gedanken gerissen. Tausende von Leuchtraketen steigen in den Abendhimmel, ein Feuerwerk aus Rot, Grün und Weiß. Er dachte: «Das ist wirklich ein bisschen viel auf einmal.»
    Andrej Lobanov-Rostovskij war in einem Ausbildungslager in Les Sables-d’Olonne an der Atlantikküste. Er und seine rebellische Kompanie hatten nicht einen einzigen Fronteinsatz miterlebt, bloß eine deprimierende Wartezeit als Reserve in den hinteren Linien, und dann den Ausbruch der Spanischen Grippe. Er selbst hatte mit schwerem Fieber darniedergelegen, hatte halluziniert, sich aber wieder erholt, dann erfuhr er, dass man ihn seines Postens als Kompaniechef enthoben hatte, worüber er insgeheim sehr erleichtert war. Zu diesem Zeitpunkt war er unglücklich in eine junge Russin verliebt, die in Nizza lebte. In der allgemein herrschenden Untätigkeit fing er an, Geschichtsbücher zu lesen, und seine Lektüre bestärkte ihn in der Überzeugung, dass die Bolschewiken nicht lange an der Macht bleiben würden. Auch wenn er wie so viele ahnte, dass der Krieg bald zu Ende ging, fiel es ihm schwer, sich ein Leben ohne Uniform vorzustellen. «Meine eigene Persönlichkeit war von dem großen Ganzen verschlungen worden. Ich glaube, dass dies die normale Kriegsmentalität war, und dass es wahrscheinlich

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