Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
ungleichmäßig, mit vielen unerklärlichen Aufenthalten. Durch Belgien, durch Frankreich, durch Deutschland, durch Österreich. Die Offiziere reisen für sich, ganz vorn, in einem besonderen Personenwagen, Soldaten und Ausrüstung in normalen Güterwaggons.
In Deutschland wurden sie «wie Pestkranke» behandelt. Genauso wie in den letzten Tagen im Westen wollten die deutschen Behörden um jeden Preis verhindern, dass die aufrührerischen und heimwehgeplagten ungarischen Soldaten die deutsche Armee mit ihren Ideen anstecken, solange sie noch kampftauglich ist. Und die Disziplin, die ohnehin schon in Auflösung begriffen war, ist während der Reise völlig zusammengebrochen. Vor allem unter dem Einfluss von Alkohol; die meisten Soldaten im Zug sind stark betrunken, ausgelassen, laut und aggressiv. Von Zeit zu Zeit fallen Schüsse. Es sind Soldaten, die im Rausch oder in der Freude ihre Gewehre in die Luft abfeuern.
Als sie an die österreichische Grenze kamen, wurde der Zug von deutschen Amtspersonen angehalten, die verlangten, dass sie sämtliches Kriegsmaterial ablieferten, vermutlich, damit es nicht einer der revolutionären österreichischen Gruppen in die Hände fiel, die auf der anderen Seite der Grenze warteten. Dabei hätte Schlimmes passieren können, denn die betrunkenen und streitbaren Soldaten weigerten sich, ihre Waffen abzugeben. Doch die Situation entspannte sich, die Deutschen begnügten sich damit, Pferde, Feldküchen und ähnliches zu beschlagnahmen. (Als sie die Grenze überquerten und von «unrasierten, schlecht gekleideten und aufgeregten Zivilisten mit Armbinden» empfangen wurden, fanden diese nichts anderes mehr vor als die Schreibmaschine des Divisionsstabs.)
In Österreich angekommen, wurde die Stimmung ausgelassener und zugleich bedrohlicher. An jeder zweiten Station stiegen Soldaten aus, zumeist erleichtert, andere stiegen ein, zumeist betrunken. In den letzten vierundzwanzig Stunden wurde auch häufiger geschossen. Diebstähle und Übergriffe finden immer offener statt. Kelemen wird auf der Reise nach Budapest von seinem Burschen Feri, seinem Pferdeknecht Laci und einer Ordonnanz begleitet, die ihn schützen – und die sogar dafür gesorgt haben, dass sein Gepäck im Kohlentender der Lokomotive versteckt wurde.
Die Nacht bricht herein. Vor den Fenstern ziehen Lichter vorbei. Aus den Güterwaggons weiter hinten sind Jubelrufe und Schüsse zu hören. Der Zug hält an einem Bahnhof. Wachsende Ungeduld unter den Soldaten. Durch die offenen Türen der Waggons feuern sie eine Salve nach der anderen ab. Einige sammeln sich vor dem Offizierswagen, der jetzt halb leer ist; sie rufen, drohen mit den Fäusten, verlangen Geld für Wein. Schüsse fallen. Die Scheiben splittern, und Scherben fallen auf den Fußboden. Bevor aber etwas Schlimmes geschieht, fährt der Zug wieder an, und die Krawallmacher klettern eilig hinein.
Dann erreichen die von Kugeln durchlöcherten Waggons die Vorstädte von Budapest. Der Zug hält kurz auf einem der kleineren Bahnhöfe in Rákos, es ist Mitternacht. Kelemen und seine drei Begleiter nutzen die Gelegenheit und steigen aus. Die Erleichterung, wieder in der Heimat zu sein, währt nur kurz; ein Bahnarbeiter warnt sie, es herrsche Chaos: Leute, die sich Revolutionäre nennen, ziehen durch die Straßen, plündern Läden und entreißen heimgekehrten Offizieren ihre Rangabzeichen, Orden und Habseligkeiten.
«Tief deprimiert», seine Abzeichen unter einem Mantel verborgen, verlässt Kelemen den kleinen Bahnhof und wandert durch leere, dunkle Straßen, auf der Suche nach einer Transportgelegenheit. Denn er will alles mit nach Hause nehmen, den Sattel, die Schusswaffen, den Degen und die anderen Dinge, die ihn seit 1914 begleitet haben. Nach einer Stunde gelingt es ihm, eine Pferdedroschke anzuhalten, die sich auf dem Heimweg befindet.
Nachdem sie das Gepäck unter dem Sitz der Droschke verstaut haben, rollen Kelemen und seine Begleiter in die Stadt. Um vier Uhr erreichen sie Kelemens Elternhaus. Er läutet am großen Tor, nichts geschieht. Er läutet noch einmal. Schließlich erscheint der Torwächter, zögernd kommt er über den dunklen Innenhof. Kelemen ruft seinen Namen und schlägt seinen Mantel zurück, um seine Rangabzeichen zu zeigen. Der Torwächter heißt die kleine Gesellschaft freudig willkommen und schließt das schwere Gitter auf, sodass Kelemen und die anderen hineinschlüpfen können.
Sie nehmen den Warenaufzug zum Kücheneingang. Da er seine Eltern
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