Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
Millionen Soldaten ähnlich ging.» Unter seinen russischen Offizierskameraden wurde diskutiert, ob man sich den Weißen anschließen und am Bürgerkrieg teilnehmen sollte, der jetzt in Russland bevorstand. Lobanov-Rostovskij wusste nicht, was er tun sollte. 39 An diesem Morgen übten sie wie immer Handgranatenwerfen, als ein französischer Offizier auftauchte und unter großer Erregung bekanntgab: «Alle Übungen abbrechen. Der Waffenstillstand ist unterzeichnet.» In der Stadt war «ein wilder Karneval» im Gang; Menschen umarmten einander und tanzten auf den Straßen. Bis in die Nacht wurde gefeiert.
Für Florence Farmborough endete der Krieg in dem Augenblick, als das Schiff mit ihr und den anderen Flüchtlingen aus dem Hafen von Wladiwostok auslief. Das Schiff erschien ihr wie ein schwimmender Palast. Sie gingen zu den Klängen von Musik an Bord, und als sie ihre Kabine betrat, fand sie sich plötzlich in einem Traum mit weißen Laken, weißen Handtüchern und weißen Gardinen wieder. 40 Und dann stand sie an Deck und sah, wie dieses Land namens Russland – «das ich so innig geliebt und dem ich so gern gedient hatte» – langsam verschwand, bis nur noch ein hellgrauer Schatten am Horizont zu sehen war. Bald trieb ein dichter bläulicher Nebel übers Meer heran und nahm ihr jede Sicht. Sie ging in ihre Kabine hinunter und blieb dort – den anderen gegenüber schützte sie Seekrankheit vor.
Kresten Andresens Familie hoffte lange, dass er in englischer Kriegsgefangenschaft sei, möglicherweise in einem entlegenen Lager in Afrika. Sie hörten nie wieder von ihm, und ihre Nachforschungen blieben ergebnislos. 41
Michel Corday befand sich ausnahmsweise einmal nicht in Paris, sondern in einer Kleinstadt auf dem Lande. Wie die meisten anderen hatte er seit Wochen geahnt, dass das Kriegsende bevorstand. Die Haltung der Menschen, denen er begegnete, war bis zum Ende sehr unterschiedlich. Es herrschte allgemeine Freude über die Erfolge, man sah viele lächelnde Gesichter. Einige Leute beharrten jedoch darauf, dass man sich nicht zufrieden geben dürfe, sondern in Deutschland einmarschieren und dem Land das Gleiche antun müsse, was es Frankreich angetan hatte. Andere wagten nicht einmal zu hoffen; sie waren zu oft enttäuscht worden. Manche hielten noch an der Parole fest, dass «Frieden» ein Unwort sei, und warteten ab. Häufig war der Satz zu hören: «Wer hätte das vor vier Monaten gedacht?» Corday hatte italienische Soldaten gesehen, die schon freudestrahlend auf dem Weg in die Heimat waren; für sie war der Krieg praktisch vorbei. Und um sieben Uhr an diesem Morgen erreichte eine drahtlose Meldung das lokale Armeehauptquartier, derzufolge der Waffenstillstand unterzeichnet sei. Glocken läuteten, Soldaten tanzten mit Flaggen und Blumensträußen in den Händen auf den Straßen. Gegen Mittag hörten sie, dass Kaiser Wilhelm II. nach Holland geflohen sei.
Alfred Pollard befand sich im Hauptquartier des britischen Expeditionskorps in Montreuil. Sein Bataillon war dorthin geschickt worden, um Wachdienst zu leisten. Anfang November diente der Verband als bewegliche Reserve, ohne an Kämpfen beteiligt zu sein, eine Tatsache, die er der Soldaten wegen bedauerte, für sich selbst aber begrüßte – «das Spektakel zu verpassen, hätte ich verabscheut». Zu diesem Zeitpunkt hatte Pollard sich von der Spanischen Grippe erholt, und als sie die Nachricht vom Waffenstillstand ein paar Minuten nach elf erreichte, waren alle «außer sich vor Freude». Der Rest des Tages verging mit Hurrarufen, Gesang und Feiern in verschiedenen Offiziersmessen, man stieß auf den Sieg an und hielt Gedenkreden für die Gefallenen. Wahrscheinlich war er ziemlich betrunken, als ihn am Nachmittag jemand in die geheimen Räume des Operationskommandos einlud, um eine große Karte anzusehen, auf der die Positionen der deutschen Divisionen eingezeichnet waren. Zufrieden stellte er fest, dass die Konzentration deutscher Verbände dort am dichtesten war, wo ihnen die britischen Armeen gegenüberstanden; am geringsten war sie, wo die Deutschen es mit Belgiern und Amerikanern zu tun hatten.
William Henry Dawkins wurde am selben Tag, an dem er fiel, auf einem improvisierten Begräbnisplatz südlich von Anzac Cove begraben. Dort ruht er noch heute, kaum zwanzig Meter vom Meeresufer entfernt. 42
René Arnaud befand sich wieder einmal an der Front, in einem Geschosskrater, der als Bataillonshauptquartier diente. Und ihm wurde bewusst, dass
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