Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
Die öffentliche Meinung, die in jenen schönen Spätsommerwochen 1914 aufgepeitscht worden war, die «alle Lebensumstände so verändert hat, dass sie sich nur noch in Begriffen der heroischen Tragödie, des übermenschlichen oder sogar heiligen Kampfes gegen die Mächte des Bösen ausdrücken ließen» 37 , eine öffentliche Meinung, für die alles andere als ein totaler Sieg lange Zeit undenkbar gewesen war, ist nun komplett umgeschwenkt.
Stumpf ist wie immer zwiegespalten. Er bedauert, dass der Krieg verloren ist, aber vielleicht war er von Anfang an nicht zu gewinnen? Er begrüßt es, dass der Tag der Abrechnung gekommen ist, aber gleichzeitig stört es ihn, dass diejenigen, die die Kriegstreiber früher am stärksten unterstützt haben, jetzt am lautesten fordern, sie zu opfern. Vielleicht spürt er nicht nur Schadenfreude, sondern auch ein schlechtes Gewissen? Es sind dramatische Tage, doch er selbst ist seltsam teilnahmslos: «Ich erlebe es mit, aber ohne stärkere innere Gefühle.»
Die Menge der Uniformierten bewegt sich am Kai entlang, in Richtung einiger Baracken, die von Matrosen mit Gewehren bewacht werden. Was wird geschehen?
Als sie näher kommen, brechen die bewaffneten Matrosen in Jubelrufe und ein dreifaches Hurra aus. Von allen Seiten strömen Menschen herbei, und die Menge zieht weiter. Was ist zu tun? Hier und dort versucht jemand den Marsch aufzuhalten, versucht zu reden, einen Beschluss herbeizuführen. Es herrscht allgemeine Verwirrung. Schließlich einigt man sich darauf, zur SMS Baden zu marschieren, dem Flaggschiff der Hochseeflotte, um dessen Besatzung zu mobilisieren.
Dort kommt es zum ersten der fünf kritischen Momente dieses Tages:
Ein Rededuell zwischen dem Kommandanten und einigen Deputierten der Demonstranten. Der Siegespreis war die auf dem Oberdeck versammelte Besatzung der «Baden». Wäre nun der Offizier ein einigermaßen geschickter Redner gewesen, so hätten die Abgeordneten ziehen müssen, ohne einen einzigen Mann hinter sich zu haben. Der schreckensbleiche Herr aber machte seine Sache schlecht. Der Soldatenrat ebenfalls, und das Ergebnis war, dass ein knappes Drittel mit uns zog.
Die Menge stößt langsam weiter vor. Der Marsch hat kein bestimmtes Ziel. Auch gibt es keine «leitende Hand», die die Demonstration führt. Stumpf und einige andere holen ihre Instrumente. Die Klänge alter Militärmärsche stacheln die Menge an, die sich nun etwas schneller an den Kais entlangbewegt; gleichzeitig lockt die Musik noch mehr Menschen an.
Zum nächsten kritischen Moment kommt es in der Peterstraße, die von einem bewaffneten Zug von vierzig Mann unter dem Kommando eines Leutnants gesperrt wird. Die Soldaten machen keine Anstalten, ihre Waffen zu gebrauchen, sondern laufen zu den Demonstranten über. «Es gewährte einen fast komischen Anblick, als sich der Leutnant plötzlich allein sah.» Die Menge drängt weiter, immer noch eher «von Hammelherdeninstinkten geleitet» als von klarer Überlegung.
An einem großen, verschlossenen Tor versucht ein einsamer, älterer Major mit gezogener Pistole die Menschenflut aufzuhalten. Dies ist der dritte kritische Moment. Der Ausgang ist aber von vornherein sicher. Das Tor wird ohne Umstände aus den Angeln gehoben. Der Major wird entwaffnet. Einige versuchen auch, ihm die Epauletten abzureißen, dann wird er von der Menge weggeschwemmt. Stumpf kann nicht umhin, Mitleid mit dem alten Mann zu empfinden, «der hier tapfer und mutig seine Pflicht tat».
Es sind vielleicht zehntausend Menschen, die sich auf dem großen Exerzierplatz versammeln, wo sogleich ein Redner nach dem anderen ein improvisiertes Podest erklimmt. Die Parolen wechseln, von Ermahnungen zu Ruhe und Ordnung bis hin zu den «sinnloseste[n] Verlangen», die jedoch mit stürmischem Beifall begrüßt werden. Stumpf glaubt, dass in dieser aufgeheizten Stimmung so gut wie jede Idee Beifall finden würde.
Dann setzt sich die Menge wieder in Bewegung. Die Stadtbewohner beobachten das Geschehen vorsichtig aus verschlossenen Fenstern. Vorbeigehende Frauen werden «angepöbelt» und mit Pfiffen bedacht. Über dem Meer von Köpfen und Schultern weht eine rote Fahne, ein gefärbtes Bettlaken. Sie ziehen über die Teichbrücke und kommen zur Torpedobootdivision. Das ist der vierte kritische Moment. Die Matrosen auf den Torpedobooten applaudieren zwar, gehen aber nicht an Land, um sich der Demonstration anzuschließen. Die Erklärung folgt auf dem Fuß: «Wir haben gleich
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