Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
Korridore schwappen. In seinen Ohren klang der Jubel wie der letzte Seufzer eines Sterbenden, wenn auch unendlich verstärkt und verzerrt. Soeben war der Waffenstillstand bekanntgegeben worden. Coppens war verwirrt: «Ich hätte große Freude empfinden sollen, und doch war mir, als werde meine Kehle von einer kalten Hand gepackt. Angst vor der Zukunft überkam mich. Ich begriff, dass ein Lebensabschnitt zu Ende gegangen war.»
Olive King war gerade aus England nach Saloniki zurückgekehrt. (In England hatte sie eine Reihe offizieller Genehmigungen einholen müssen, die für die Verwirklichung ihres nächsten großen Projekts erforderlich waren: Sie wollte eine Kette von Marketendereien eröffnen, die die Not der heimkehrenden serbischen Flüchtlinge und Soldaten lindern sollten.) Die Reise nach England war für sie ein gelinde gesagt verwirrendes Erlebnis gewesen. Sie hatte sich dort einsam gefühlt und nach Griechenland zurückgesehnt, doch allmählich kippte dieses Gefühl, und sie entwickelte einen Widerwillen bei dem Gedanken an Saloniki. Dennoch trat sie die Rückreise an, und es sollte ein unerwartet freudiges Wiedersehen werden. Ihre Einheit war schon länger auf dem Weg nach Norden, der zerfallenden bulgarischen Armee auf den Fersen. (Kurz vor Kriegsende bekamen all diese Soldaten in Saloniki also etwas Richtiges zu tun, und sie zwangen im September das hart bedrängte Bulgarien zur Kapitulation. Das Osmanische Reich folgte bald darauf dem bulgarischen Beispiel, und am Ende der Kettenreaktion stand Österreich-Ungarn.) Ihre beiden Automobile waren mit den Vorrückenden verschwunden, ihre Holzhütte war versetzt worden und nahezu leer – doch hatten ihre serbischen Freunde ihren ganzen persönlichen Besitz sorgfältig verpackt und beiseitegeräumt. Vor der Reise ins befreite Belgrad ging King alles durch, was sich in diesen Jahren bei ihr angesammelt hatte. Das meiste war nur «Krempel», wie sie fand, unter anderem warf sie einen ganzen Koffer mit alten Kleidern sowie Stapel von Zeitungen und Nachrichtenbulletins weg. All das war jetzt vorbei.
Vincenzo D’Aquila befand sich auf einem Frachtschiff vor Bermuda auf dem Heimweg in die USA. Höchstwahrscheinlich hat ihn seine amerikanische Staatsbürgerschaft gerettet – und die Tatsache, dass er nie einen formalen Waffeneid abgelegt hatte. Mit Rücksicht auf die öffentliche Meinung in den USA hatten die italienischen Behörden anscheinend vermeiden wollen, ihn zum Märtyrer zu machen. Selbst wenn er in Uniform geblieben und in Italien festgehalten worden wäre, hätte er nicht an die Front zurückkehren müssen. Auf Umwegen erhielt D’Aquila schließlich die Erlaubnis, in die USA zu reisen. Nachdem er das Postschiff nach New York verpasst hatte, fand er einen Platz auf der Carolyn , einem amerikanischen Frachter, der im September von Genua auslief. In Gibraltar nahm man Erz an Bord. Aufgrund von U-Boot-Warnungen entschied sich der Kapitän für die deutlich längere, aber auch weniger gefährliche Route über Brasilien. Auf dem Weg nach Norden sahen sie etwas Ungewöhnliches: ein Schiff, das mit voller Beleuchtung durch die Nacht fuhr. Im Morgengrauen entdeckten sie ein zweites Schiff und signalisierten ihm mit Flaggen: «Ist der Krieg aus?» Die Antwort war im technischen Sinn völlig korrekt: «Nein, es ist nur Waffenstillstand.»
Edward Mousleys Krieg war vorbei, als er an Bord des Schiffs ging, das ihn aus der Gefangenschaft in Konstantinopel nach Smyrna in die Freiheit bringen sollte. «Alles ist aufregend und ungeordnet», schreibt er ins Tagebuch. «Jahrhunderte von Unfreiheit fallen jede Sekunde von mir ab. Äußerlich bin ich ruhig, und ich bin viel zu beschäftigt, um über das phantastische Ende dieser schrecklichen Ewigkeit lange zu psychologisieren.» An Bord befanden sich auch einige andere kürzlich freigelassene Kriegsgefangene. Er teilte die Kabine mit einem Mann, der ebenfalls in Kut al-Amara Artillerist gewesen war, und der Wahnsinn vorgetäuscht hatte, um freizukommen. Als das Schiff ablegte, war es schon dunkel. Die Konturen der Stadt verschmolzen mit der Nacht. Zuerst verschwanden die weichen Formen der großen Moscheen, als Letztes die scharfen Linien der hohen Minarette. Mousley ging eine Weile in die Kabine hinunter, wo er zusammen mit seinem Kameraden rauchte und dem Wellenschlag lauschte. Als Mousley und sein Freund wieder an Deck gingen, war die Stadt verschwunden. Man sah nur noch das Funkeln ferner Lichter im Kielwasser:
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