Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
Friedliches, ja fast Idyllisches über der weißen, hügeligen Landschaft. Nur dass dies so selten geschieht. Es knallt fast die ganze Zeit.
Seit ein paar Wochen unternehmen die Franzosen an diesem Abschnitt der Westfront immer wieder kleine Vorstöße: in den Argonnen, im Elsass und hier in der Champagne. Die französischen Erfolge halten sich zwar in Grenzen, aber sie sind von einem Artilleriefeuer begleitet, das schlimmer ist als alles, was Sulzbach bisher erlebt hat. Und nicht selten ist das Feuer direkt auf ihre Geschützstellungen gerichtet, der Boden dort ist jetzt von Granateinschlägen durchgepflügt. Ihre 7,7-cm-Feldkanonen, die ordentlich eingegraben sind, haben bisher noch gut standgehalten. Die alte Gewohnheit, die Zugpferde und Protzen – so heißen die Transportkarren für die Geschütze – in der Nähe zu belassen, hat man natürlich aufgeben müssen. Weiter hinten sind mehrere Reihen von windschiefen Hütten und eilig zusammengezimmerten Ställen zu erkennen, die jedoch mit der Zeit ihren provisorischen Charakter eingebüßt haben.
Wie der Krieg selbst. Sulzbach ist einer von vielen, die in der Überzeugung hinausmarschiert waren, das Ganze sei in einigen Wochen vorbei – daher die Eile, die sich als Eifer tarnt –, doch gegen Neujahr hatte man enttäuscht feststellen müssen, dass noch kein Ende abzusehen war. Dies, und die Granaten, die Kälte, die Nässe und nicht zuletzt der Schlamm, der sich an alles haftet, hat ihn seine gute Laune verlieren lassen. Sulzbach singt nicht mehr so viel wie früher. Er hat einen herrenlosen Hund zu sich genommen, eine kleine weiße Mischlingshündin. Er ist froh, dass er mit seinem Freund Kurt Reinhardt über alles reden kann.
An diesem Tag geraten sie wieder einmal unter intensiven französischen Artilleriebeschuss. Weil sie ihren neugebauten Schutzräumen misstrauen oder auch aus Angst, lebendig begraben zu werden, stürzen sie hinaus ins Freie und werfen sich der Länge nach in den kalten Lehm. Das Knallen und die Druckwellen und die Explosionsgase dringen von allen Seiten auf sie ein. Hinterher schreibt er in sein Tagebuch:
Es ist ein Glück, dass man jetzt wenig zum Denken kommt, aber wenn man Zeit dazu hat, dann malt man sich immer den siegreichen Einzug in seine Heimatgarnison aus. Aber wir dürfen nicht weich werden, wir sind ja schon «alte Soldaten» – wird einmal wieder richtiger Frieden werden?
Einige Soldaten der Batterie sind verwundet worden, und zwei der Pferde sind tot.
26.
Mittwoch, 3. Februar 1915
Michel Corday trifft in Paris einen Helden
Noch ein Mittagessen. Der prominenteste Gast der Gesellschaft ist ohne Zweifel der bekannte Autor und Abenteurer, das Akademiemitglied Pierre Loti 5 , und der seltsamste ein Leutnant Simon, im Zivilleben Lehrer für Französisch mit englischem Wohnsitz und Übersetzer. Übersetzer, ja: Simon hat ein Buch aus dem Englischen ins Französische übersetzt, das im Übrigen kein Erfolg wurde, denn es handelt von einem Deutschen (Goethe). Trotz seiner geringen literarischen Verdienste behauptet der Leutnant seinen Platz in der Gesellschaft. Er ist nämlich Veteran der Marne-Schlacht, bei der er ein Auge verloren und eine Verwundung am Arm davongetragen hat. Vor dem Fenster: ein bitterkaltes Paris.
Die Marne-Schlacht umgibt eine besondere Aura. Das erklärt sich fast von selbst: Dort wurden die deutschen Armeen, die scheinbar nicht aufzuhalten waren, gestoppt, Paris wurde gerettet und eine drohende Niederlage abgewendet. (Außerdem hat der Triumph an der Marne eine wahrlich große Enttäuschung überdecken können, nämlich die missglückte und verlustreiche französische Offensive im deutschen Lothringen zu Beginn des Krieges.) Aber es gibt noch einen weiteren Grund. Das Schlachtfeld ist leicht zugänglich. Sonst sind die Kampfzonen hermetisch abgeriegelte Regionen, zu denen keine Zivilisten Zutritt haben und für die man eine Sondergenehmigung braucht, schon wenn man dorthin telefonieren will. (Selbst hohe Politiker haben zuweilen Probleme, wenn sie die Front besuchen wollen, was sie gern tun, da es sich gut macht und ihnen die Möglichkeit verschafft, sich in eigenartigen, uniformähnlichen Kreationen zu zeigen. Einmal, als Briand die Front besuchte, dachten einige, er sei der Chauffeur.) Die ehemaligen Schauplätze der Marne-Schlacht stehen dagegen jedermann offen, außerdem sind sie von Paris aus bequem zu erreichen. Sie sind zu einem beliebten Ausflugsziel geworden, die Leute fahren
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