Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
ist voller Routine. Zuerst scheuern Stumpf und die anderen Matrosen das Deck. Danach putzen sie alle Messingteile, bis sie glänzen. Schließlich folgt eine pedantische Überprüfung der Uniformen. Besonders Letzteres macht Stumpf wütend. Er schreibt in sein Tagebuch:
Aus der Kleiderkammer erhalten wir wegen des Wollmangels schon lange keinen Ersatz mehr für aufgebrauchtes Zeug. Trotzdem bemäkelt unser Divisionsoffizier 4 jedes Fältchen und Fleckchen im Zeug. Für jede Erklärung dafür gebraucht er die stereotype Antwort: ‹Kümmerliche Ausrede!› Ein solches Verfahren verekelt, weiß Gott, die ganze Freude am Dienst. Ich bin gegen alles höchst gleichgültig, und das nicht nur ich allein. Ein Glück, dass nicht alle Offiziere so sind!
Stumpf beißt bei der «hochnotpeinlichen Musterung» die Zähne zusammen, hofft aber im Stillen, dass ein feindliches Flugzeug auftaucht und «dem ‹Alten› eine Bombe auf den Kopf wirft». Außerdem tröstet er sich damit, dass er am Nachmittag freihaben wird.
Da trifft ein Befehl ein. SMS Helgoland soll Kurs auf Wilhelmshaven nehmen und ins Trockendock gehen. «O weh!», schreibt er, «da war der Sonntag wieder futsch.» Der Krieg will sich Stumpfs Erwartungen nicht anpassen. Der Nachmittag vergeht mit Scherereien in den Schleusen. In der einbrechenden Dämmerung werden alle Versuche weiterzufahren eingestellt, und sie machen für die Nacht fest.
24.
Freitag, 22. Januar 1915
Elfriede Kuhr bekommt in Schneidemühl Besuch von einem Bäckerlehrling
Es ist spät. Es klingelt an der Tür. Elfriede öffnet. Draußen im frostigen Winterdunkel steht der Bäckerlehrling in seiner weißen Arbeitskleidung, mit Holzschuhen an den Füßen, die von Mehlstaub bedeckt sind. Er hält ihr einen zugedeckten Korb hin. Darin liegen frischgebackene Brötchen, noch ofenwarm. Sie bekommen morgens immer frisches Brot nach Hause geliefert, aber jetzt ist es doch Abend? Der Bäckerjunge lacht: «Nu nich’ mehr, Frollein.» Er erzählt, dass wegen der neuen staatlichen Restriktionen hinsichtlich der Verwendung von Mehl nicht mehr nachts gebacken werden darf. Was ihn nicht im Geringsten betrübt, denn jetzt kann er wie ein normaler Mensch schlafen. Dann rennt er weiter, ruft ihr noch zu: «Von wegen dem Krieg!»
Ihre Großmutter begrüßt die neuen Regeln. Die Deutschen essen sowieso zu viel Brot. In den Zeitungen wird streng davor gewarnt, Getreide als Viehfutter zu verwenden: «Wer Brotgetreide verfüttert, versündigt sich am Vaterland und macht sich strafbar.» Die Versorgung der Bevölkerung steht vor einer tiefgreifenden Umwälzung: Anstatt die Kalorien auf dem Umweg über Schlachttiere zu sich zu nehmen, soll man sie in ihrer ursprünglichen, vegetarischen Form konsumieren. Gemüse, nicht Fleisch soll ab jetzt den Speiseplan der Deutschen dominieren. In dieser Region arbeiten zwei Drittel der Bevölkerung in der Landwirtschaft. Das bedeutet aber nicht, dass alle unter gleichen Bedingungen leben. Die kleinen Bauern und Landarbeiter haben die schlechten Zeiten schon zu spüren bekommen, während die Großbauern bestens zurechtkommen. Elfriede hat von Großbauern gehört, die ihren Kühen und Pferden trotz aller Verbote immer noch Getreide geben, das kann man am schönen Fleisch und dem glänzenden Fell der Tiere erkennen. Nein, die Großbauern und Gutsbesitzer haben vom Krieg noch nichts gemerkt.
Da gibt es gleich morgens zum Frühstück herrliches Weißbrot, manchmal mit Rosinen und Mandeln drin, und dazu Eier, Wurst, Käse, dunkelroten Schinken mit schwarzer Kruste, Spickgans, verschiedene Marmeladen und was weiß ich, was noch. Wer will, kann frische Milch trinken, wer will, Kaffee oder Tee. In den Tee tun sie sogar noch ganze Löffel voll Fruchtgelee.
In Elfriedes Neid auf die Lebensart der Großbauern mischt sich an diesem Tag aber ein Anflug von schlechtem Gewissen. Auch sie versündigt sich gegen das Vaterland, jedenfalls ein bisschen. Sie hat eine große Schwäche für Pferde, und manchmal, wenn sie ein Pferd sieht, gibt sie ihm heimlich ein Brot oder einen Apfel zu fressen, die eigentlich für sie selbst bestimmt sind. Es gibt aber längst nicht mehr so viele Pferde wie vor dem Krieg; alle, die nicht in der Landwirtschaft gebraucht werden, sind von der Armee requiriert worden.
25.
Samstag, 23. Januar 1915
Herbert Sulzbach gerät bei Ripont in französisches Artilleriefeuer
Kürzlich hat es geschneit. Wenn das Artilleriefeuer verstummt, liegt etwas
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