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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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Uhr werden Verwandte und Freunde des Wartens müde und verschwinden vom Bahnsteig, in Zweier- und Dreiergrüppchen. Um ein Uhr nachts sind nur noch Uniformierte zu sehen. Der Zug kommt, und sie steigen ein. Unmittelbar vor der Abfahrt tauchen Polizisten auf und kämmen die Waggons nach Deserteuren durch. Doch diese sind offenbar gewarnt worden und springen schnell auf der anderen Seite des Zugs wieder heraus. Dort halten sie sich versteckt, bis die Polizisten verschwunden sind.
    Um zwei Uhr nachts verlässt der Zug Waterloo Station. Ziel der Reise ist Plymouth. Dort wartet das Dampfschiff HMTS Neuralia. Es wird sie nach Ostafrika bringen.

37.
    Donnerstag, 15. April 1915
    Willy Coppens sieht bei De Panne einen Zeppelin
     
    Der gewaltige, längliche Körper des Luftschiffs bewegt sich majestätisch und nahezu geräuschlos durch den Abendhimmel. Der Anblick ist schrecklich und erhaben zugleich. Dass es sich um ein feindliches Schiff handelt, ist in diesem Moment ziemlich gleichgültig. Das Schauspiel kann den belgischen Grenadier jedenfalls in seinem Wunsch, Pilot zu werden, nur bestärken, ein Traum, der merkwürdigerweise hier in De Panne geboren wurde, an ungefähr dieser Stelle, an der er den deutschen Zeppelin über den Ärmelkanal gleiten sieht.
    Damals war er fünf Jahre alt gewesen. Zwischen den Sanddünen hatte er seinen ersten Drachen in der Meerbrise schweben sehen. Hinterher hatte er gedacht, dass dieser Papierdrachen «eine Art okkulte Macht besaß, die mich auf unwiderstehliche und unerklärliche Weise zur Unendlichkeit des Himmels hinaufzog». Als die dünne Schnur sich mit einem singenden Geräusch spannte, hatte er gezittert vor Aufregung – und vor Angst.
    Willy Coppens ist Soldat in der belgischen Armee, in dem, was nach der deutschen Invasion im August vergangenen Jahres noch davon übrig ist, jener Invasion eines neutralen Staates, die Großbritannien die offizielle Begründung für den Kriegseintritt lieferte.  22 Und er befindet sich in dem von Schützengräben zerfurchten Streifen belgischen Bodens, der der Okkupation entgangen ist und sich von Niewport am Ärmelkanal bis nach Ypern und Messines an der französischen Grenze erstreckt. Seine Eltern und Geschwister sind auf der anderen Seite der Front, in Brüssel. Als im August des vergangenen Jahres der Einberufungsbescheid kam, hatte er die Uniform des 2. Grenadierregiments, 3. Bataillon, 3. Kompanie übergestreift – seine Dienstnummer war 49800. Dann hatten sie am Ort der Einberufung warten müssen. Dieses Warten und die Ungewissheit fand er am Ende so «furchtbar», dass «die Kriegserklärung, als sie schließlich kam, eine reine Erleichterung war».
    Die Tatsache, dass sein Land angegriffen und seine Heimatstadt besetzt wurde, verleiht ihm natürlich umso mehr Kraft und Motivation. Die Schreckenstaten, derer die Deutschen sich in jenen Augustwochen schuldig gemacht haben (die Massaker in Dinant, Andenne und Tamines,  23 die Verwüstung von Löwen und so weiter) und über die die alliierte Propaganda immer wieder berichtet hat, die sie in Szene gesetzt, dramatisiert und auf eine Weise ausgeschmückt hat, dass die ursprünglichen Gräuel unter einer Schicht von grellbunten Klischees zu verschwinden drohten, ja, dies alles erwähnt er gar nicht. Vielleicht gehört Coppens zu jenen, die der Ansicht waren, es sei trotz allem nur Propaganda gewesen? Oder vielleicht haben neue, selbst erlittene Schmerzen schon jene alten Schreckensbilder verdrängt? Oder hat die Abenteuerlust gesiegt? Er ist immerhin erst zweiundzwanzig Jahre alt.
    Aber natürlich spürte er Bitterkeit und Hass auf die Deutschen. Später, als Coppens an diese Episode mit dem Zeppelin bei De Panne zurückdenkt, erklärt er, er habe «stets bedauert, nie den Auftrag erhalten zu haben, den Feind in seinem eigenen Land zu bombardieren». Jetzt denkt er das allerdings noch nicht, an diesem Aprilabend, als er den Zeppelin übers Meer verschwinden sieht. Die Männer an Bord hasst er nicht, er beneidet sie. Als er dem Luftfahrzeug nachschaut, wie es von der Dämmerung verschluckt wird, stellt er sich vor, «welch wunderbares Gefühl es sein muss für die Menschen an Bord».
    Coppens hat auch tatsächlich schon um Versetzung von der Infanterie zur Luftwaffe angesucht. Das war im Januar. Er hat noch keine Antwort erhalten.
    Der Zeppelin ist schon in der Dunkelheit verschwunden, als zwei belgische Flugzeuge vorbeigesurrt kommen, die ihn offenbar verfolgen. Coppens bemerkt, dass es

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