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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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verglichen mit britischen Preisen: ein halbes Kilo Tee, das in England einen Shilling und zehn Pence kostet, wird hier für zwei Shilling und sechs Pence verkauft; eine Flasche Worcestersauce, die zu Hause neun Pence kostet, wird hier für zwei Shilling gehandelt. Der allgemeine Gesundheitszustand der Soldaten hat sich in den letzten Monaten gravierend verschlechtert. Buchanan selbst glaubt, dass mindestens die Hälfte der Krankheitsfälle mit dem Mangel an vollwertiger Nahrung zu tun hat.
    Nach dem Abendessen wird wieder gegraben, die Arbeit endet erst, wenn das Tageslicht in einer Dämmerung erlischt, die der Welt jede Farbe raubt. Der Sonnenuntergang auf diesem Breitengrad dauert nicht lange. Der Rest des Tages besteht aus Mondlicht, sirrenden Mücken und dem Geruch von brennendem Abfall und rotem Lavasand.

54.
    Donnerstag, 9. September 1915
    Michel Corday nimmt den Zug nach Paris
     
    Herbstmorgen. Herbstluft. Michel Corday sitzt im Zug nach Paris. Wie immer fällt es ihm schwer, nicht heimlich den Gesprächen der Mitreisenden zu lauschen. Einige blättern in ihren Morgenzeitungen. Einer fragt: «Irgendwas Neues?» Die kurze Antwort lautet: «Ein russischer Sieg.» Corday ist verblüfft. Wissen sie nicht, dass die Russen schon seit dem deutsch-österreichischen Durchbruch bei Gorlice und Tarnów Mitte Mai auf dem Rückzug sind? Dieser knappe Wortwechsel ist auch das Einzige, was während der ganzen Reise von Fontainebleau nach Paris über den Krieg gesagt wird.
    Er erinnert sich an eine andere Reise mit der Eisenbahn, als er auf einem Bahnhof eine Frau mit einer aktuellen Zeitung sah, die das offizielle Kriegskommuniqué überflog und begeistert ausrief: «Wir sind 400 Meter vorgerückt!» Woraufhin sie sofort über etwas anderes zu sprechen begann. Corday kommentiert: «Das reicht ihnen. Das stellt sie ganz zufrieden.»
    In seinem Arbeitszimmer angekommen, telefoniert er mit Tristan Bernard, einem guten Freund und erfolgreichen Vaudeville-Autor. Bernard teilt Cordays Skepsis gegenüber dem Krieg und hat stets einen bissigen Kommentar parat: Die Russen an der Ostfront seien «immer wohlgeordnet auf dem Rückzug, während die Deutschen erfolgreich, aber in Unordnung, vorrücken.» (Über die beiden Angriffe auf die weit voneinander entfernten Orte Tout-Vent und Moulin-sous-Touvent hat er behauptet, einer davon habe versehentlich stattgefunden, weil jemand im Hauptquartier die Namen verwechselt habe, und der zweite – erfolgreiche – Angriff sei gar nicht geplant gewesen.)
    Die beiden wissen ebenso gut wie viele andere, dass oben in Artois und in der Champagne Vorbereitungen für eine große alliierte Offensive getroffen werden. Aus Angst, abgehört zu werden, haben sie einen Code vereinbart, um über die kommende Aktion diskutieren zu können. Sie tun so, als seien sie damit beschäftigt, gemeinsam ein Theaterstück zu schreiben, und Fragen nach dem Angriffsdatum werden als Fragen nach der Seitenzahl getarnt. (Einmal ging das Gerücht, die Operation sei abgeblasen worden, da fragte Bernard: «Stimmt es, dass das Manuskript ins Feuer geworfen wurde?»)
    Später liest Corday ein Rundschreiben des Bildungsministers, das zum bevorstehenden Herbstsemester an alle Schulen verschickt wurde. Darin werden die Lehrer auf das Strengste dazu angehalten, ihre Schüler in allen Fächern auf «heroische Taten» der französischen Armee hinzuweisen und auf «die edlen Lehren, die man aus ihnen ziehen kann».
***
    Am gleichen Tag schreibt eine erschöpfte Florence Farmborough in ihr Tagebuch:
     
Um sieben Uhr morgens taumelte ich aus dem Bett. Mein Dienst begann um halb acht, und ich ging mit schwerem Kopf die Treppe hinunter, und bei jedem Schritt hatte ich das Gefühl, als würden meine Beine unter mir nachgeben. Ekaterina, die ich ablösen sollte, sah bleich und erschöpft aus vor Schlafmangel; sie saß vor der Tür des Raums, in dem die Patienten verbunden werden, und paffte eine Zigarette. «Gott sei Dank», sagte sie brüsk, «jetzt kann ich schlafen gehen.» Dann warf sie ihren Zigarettenstummel fort. Es waren keine Verwundeten gekommen, um sie zu beschäftigen; ich kann gut verstehen, dass ihr das Warten lang wurde.

55.
    Freitag, 10. September 1915
    Elfriede Kuhr besucht den Soldatenfriedhof bei Schneidemühl
     
    Gleich vor der Stadt liegt ein Soldatenfriedhof. Er ist im letzten halben Jahr beträchtlich gewachsen. Der Weg dorthin führt durch einen schönen Kiefernwald und ein reich verziertes Tor. Heute wollen

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