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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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nachdem ihn der Oberst gerade fürchterlich gescholten hat, weil er in der Eile vergessen hat, seine Gamaschen anzuziehen. Gleichzeitig ist er aufgeregt wegen des Auftrags, den er bekommen hat. Er hat sich lange nach einer Chance gesehnt, zu brillieren. Und jetzt ist sie gekommen.
    Nicht, dass er auf der faulen Haut gelegen hätte. Der Kompaniechef hat ihn seit langem im Blick, den großgewachsenen, aggressiven und vollkommen furchtlosen 22-Jährigen, der jede Gelegenheit wahrnimmt, am Kampf teilzunehmen, sich immer freiwillig zu gefährlichen Aufträgen meldet und manchmal ganz auf eigene Faust Ausflüge ins Niemandsland unternimmt. Einmal hat er dabei in einem Krater einen von Splittern leicht beschädigten Burberry-Mantel gefunden und daneben einen aufrecht stehenden, abgerissenen Kopf ohne Spur eines Körpers, ein Anblick, den er «komisch und gleichzeitig bewegend» fand. Den Mantel trägt er bei schlechtem Wetter. Von dem Kopf phantasiert er manchmal. War es ein Freund oder ein Feind? War es ein mutiger Kerl, der starb, als er «bei einer Attacke voller Kampfeslust vorstürmte», oder war er nur einer, der sich «krank vor Angst versteckte?»
    Pollard ist gerade zum Sergeanten und stellvertretenden Führer des Grenadierzugs  57 seines Bataillons ernannt worden, den er selbst ausgebildet und dann mit seinem üblichen Eifer in der Kunst des Handgranatenwerfens gedrillt hat.
    Jetzt ist die Stunde gekommen. Vor fünf Tagen begann der große britische Angriff bei Loos, wohl vorbereitet und mit zahlreichen Truppen ausgestattet, aber auch diesmal haben die Anstrengungen außer zu enormen eigenen Verlusten zu keinen nennenswerten Ergebnissen geführt. (Zwei der beteiligten Divisionen haben im Laufe weniger Tage die Hälfte ihrer Truppen verloren.) In der üblichen Weise haben sich die Kämpfe auch auf andere Frontabschnitte ausgedehnt – der Terminus lautet «Entlastung». Die Deutschen haben in einem Wald bei Zillebeke nahe Ypern, von den Briten Sanctuary Wood genannt,  58 eine große Mine gesprengt und dann den riesigen, mit Leichen angefüllten Krater, der dabei entstanden ist, eingenommen. Der Grenadierzug hat den Befehl bekommen, das Loch zurückzuerobern.
    Der Zug teilt sich in zwei Abteilungen, eine unter dem Kommando Pollards, die andere unter dem des Zugführers Hammond. Der Plan ist, dass sich die beiden Gruppen durch die Schützengräben um den Krater von verschiedenen Seiten vorarbeiten, bis sie sich treffen. Die Hauptwaffe sind Handgranaten, die sie in Säcken mitführen. Die einfachen Soldaten haben außerdem Keulen für den Nahkampf. Pollard verspürt keine Angst vor dem, was kommt. Vielmehr ist er voller Dankbarkeit dafür, dass er den Auftrag erhalten hat. Außerdem hat das Ganze in seinen Augen eher den Charakter eines Wettkampfs; er ist fest entschlossen, dass sein Teil des Zugs vor der Abteilung Hammonds ankommt.
    Dennoch ist Pollard nicht nur von Kampfeseifer erfüllt. Seit längerem steht er in Kontakt mit einer Frau, deren Familie er kennt, einer Frau, die ihm Geschenke macht und ermunternde Briefe schickt. Er ist bis über die Ohren verliebt, nennt sie My Lady , «das göttlichste, wunderbarste Geschöpf, das je existiert hat», und er hat – anlässlich jenes abgeschlagenen Kopfes – daran gedacht, dass, sollte ihn das gleiche Schicksal treffen, hoffentlich ihr Name das letzte Wort ist, das über seine Lippen kommt. (Sie heißt Mary.) Vor ein paar Wochen hat er ihr einen Brief geschrieben, in dem er um ihre Hand angehalten hat.
    Gestern hat Pollard die Antwort erhalten. Die Frau brachte ihre Bestürzung über seinen Vorschlag zum Ausdruck und teilte ihm mit, dass er der Letzte sei, den sie heiraten würde. Schockiert und deprimiert suchte Pollard einen Gasthof in einem nahe gelegenen Dorf auf, wo er sich mit Champagner betrank. Er war immer noch betrunken, als er mit der Nachricht von seinem Auftrag geweckt wurde.
    Um drei Uhr wird das kurze Sturmfeuer eröffnet, und in dem Getöse beginnt die Gruppe von Männern gleich darauf mit dem Vormarsch durch die Schützengräben. Rings herum stehen hohe, belaubte Bäume. Nach knapp fünfzig Metern werden sie von einer hohen Barrikade aufgehalten, die aus Sandsäcken erbaut ist. Alle beginnen, Handgranaten hinüberzuwerfen. «Bang! Bang! Bang! Zunk! Zunk! Zunk!» Nach drei Minuten folgt die Gegenreaktion, in Form herabfallender deutscher Stielhandgranaten. So geht es eine Weile weiter, bis Pollard die Geduld verliert. Gemäß der Methode, die er in

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