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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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Elfriede und eine Schulfreundin den Friedhof besuchen. Elfriede hält einen Strauß Rosen in der Hand.
    Sie sehen ein leeres, frisch ausgehobenes Grab. Daneben stehen sechs Spaten. Elfriede lässt ihren Strauß in die Grube fallen und sagt zu der Freundin: «Wenn jetzt ein Soldat beerdigt wird, schläft er auf meinen Blumen.» In diesem Augenblick kommt ein kleiner Begräbniszug durch das Tor: zuerst eine Gruppe Soldaten mit Gewehren, dann ein Militärpfarrer und ein Leichenkarren mit einem einfachen schwarzen Sarg darauf. Zuletzt ein kleines Trauergefolge, das einen großen Begräbniskranz trägt. Die kleine Prozession bleibt an dem offenen Grab stehen. Die Soldaten stellen sich auf.
     
Der Sarg wurde vom Wagen gehoben und an die Grube getragen. Ein Kommando ertönte: «Achtung! Prä-sentiert das Gewehr!» Die Soldaten standen wie in Erz gegossen. Langsam glitt der Sarg über die Seile in die Erde. Der Geistliche sprach ein Gebet; die Soldaten nahmen die Helme ab. Neues Kommando: «Legt – an! Ach-tung! Feuer!» Dreimal schossen die Soldaten über den Sarg. Dann traten sechs Mann an das Grab, griffen die Spaten und schaufelten Erde auf den Sargdeckel.
     
    Elfriede versucht sich vorzustellen, wie der Mann in dem Sarg allmählich unter der hinabgeworfenen Erde verschwindet: «Jetzt ist das Gesicht zu … jetzt die Brust, der Leib.»
    Später fragen sie den Friedhofswärter, wer gerade begraben worden sei. «Ein Flieger-Unteroffizier», antwortet er: «Sicher ein Unfall. Aber man weiß ja nie – die Leute trinken manchmal über den Durst.»

56.
    Samstag, 25. September 1915
    René Arnaud erlebt den Beginn der großen Offensive in der Champagne
     
    Südwestlicher Wind. Tiefhängende, graue Wolken. Regen. Ein normaler Herbsttag, und doch kein normaler Herbsttag. Denn dies ist der Tag mit großem T, le jour J , hier in der südöstlichen Champagne, aber auch weiter im Norden, oben in Artois. In der Champagne sollen zwei französische Armeen – Pétains 2. und de Langle de Carys 4. – jeden Moment auf einer Front von ungefähr fünfzehn Kilometern angreifen und die Deutschen entlang der Meuse nach Belgien hinauf treiben; das ist die eine Stoßrichtung der Offensive. Gleichzeitig werden Briten und Franzosen in Artois um Loos und die Vimy-Höhe angreifen; das ist die zweite Stoßrichtung.
    Zwar ist genau dies schon im Frühjahr versucht worden, an fast den gleichen Stellen. Die Erfolge damals waren gering und die Verluste groß,  53 aber jetzt ist es anders, jetzt sind die Vorbereitungen viel gründlicher, die Anzahl der angreifenden Soldaten und der Geschütze erheblich höher; etwa 2500 Geschütze sollen in der Champagne zum Einsatz kommen. Niemand glaubt, dass die Waffen, die man damals hatte, falsch eingesetzt wurden; die einzige Lösung, die man sich vorstellen kann, besteht darin, noch mehr Waffen einzusetzen, noch mehr Kanonen und Granaten. Man setzt also auf Masse und Gewicht.  54 Das Ziel dieser Doppeloffensive ist zudem extrem ehrgeizig. Hier geht es nicht um kleine Terraingewinne, sondern um nichts Geringeres, als «die Deutschen aus Frankreich hinauszujagen» – um den Tagesbefehl mit der Nummer 8565 zu zitieren, den Joffre, der französische Oberbefehlshaber, für die Truppen, die jetzt auf den Angriff warten, herausgegeben hat. Es ist beabsichtigt, den Soldaten den Tagesbefehl vorzulesen. Und die bevorstehende Operation ist nur der Anfang. Wenn man erst hier in der Champagne und oben in Artois die deutschen Linien durchbrochen hat, soll eine allgemeine Offensive gestartet werden.
    Es sind die Illusionen von 1914, die herumgeistern: genauer gesagt der Traum vom schnellen Sieg.  55 Die Erwartungen sind gewaltig, genauso wie die Vorbereitungen und die Ziele. Wenn Joffre hält, was er verspricht, kann der Krieg Weihnachten vorbei sein!
    Einer von denen, die der Offensive voller Spannung entgegensehen, ist René Arnaud. Auch ihm imponieren die Vorbereitungen, sowohl das Ausmaß als auch die Gründlichkeit, die Masse und das Gewicht: die enormen Truppenbewegungen, die neu angelegten Verbindungsgräben, die kolossalen Munitionslager, die Ansammlung von Artillerie, schwerer und leichter, die Menge der wartenden Kavallerie, sowie natürlich «das ständige Brummen von braunen und gelben Flugzeugen über unseren Köpfen, vergeblich gejagt von feindlichen Granaten, deren weiße Rauchwölkchen man plötzlich am Himmel aufgehen sah, wie ins Wasser geworfene japanische Papierblumen, kurz darauf gefolgt von der

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