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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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fliegenden Einheit haben sich festgefahren. Langsam wird ein Wagen nach dem anderen herausgezogen. Auf den Weg werden Tannenzweige gestreut, um ihn sicherer zu machen.
    Dann kommen sie wieder in Gang, und Florence sinkt zurück in ihre einsame Welt, in der es fast nichts außer diesem schmerzenden Backenzahn gibt. Nur einmal hebt sich der Schleier. Plötzlich geraten sie in eine Wolke von heftigem Gestank. Sie hört erregte Stimmen. Es zeigt sich, dass sie an einem Haufen von etwa zwanzig Kadavern vorbeikommen, darunter einige Pferde, die dort schon seit mehreren Wochen liegen und die Luft verpesten.
    Was als Nächstes geschehen soll, weiß niemand genau. Der letzte Befehl lautet, dass sie sich der 62. Division anschließen sollen, die irgendwo in der Nähe ist.

60.
    Donnerstag, 28. Oktober 1915
    Vincenzo D’Aquila wird Zeuge des gescheiterten Sturms auf den Monte Santa Lucia
     
    Es ist, als säße man in der ersten Reihe. Und nicht nur metaphorisch. D’Aquila befindet sich tatsächlich an einem Beobachtungspunkt; von dort soll man mit dem Fernglas die Angriffe verfolgen können. Ausnahmsweise herrscht klares Wetter. Es dürfte kein Problem sein, die Kolonnen die Berghänge hinaufstürmen zu sehen.
    Der Beobachtungsplatz ist von Burschen, Ordonnanzen und anderen vorbereitet worden. Die sorgfältig angebrachte Tarnung aus Baumzweigen ist nach der windigen Nacht wieder hergerichtet worden, Tische und Lehnstühle stehen bereit, die Feldtelefone wurden kontrolliert. Die ganze Zeit liegt ein trüber Geräuschteppich in der Luft, kaum ist das Dröhnen einer Explosion verklungen, setzt schon ein neues ein. Auf der anderen Talseite hämmert das italienische Trommelfeuer auf die ‹Zwei Schwestern› ein; weiße Detonationswolken bekränzen die bewaldeten Hänge des Monte Santa Lucia und des Monte Santa Maria. Ferngläser und Sherry werden bereitgestellt.
    Irgendwo dort unten in einem Schützengraben wartet die 7. Kompanie darauf, loszustürmen. Aber D’Aquila ist nicht dabei. Mit unerwarteter Hilfe seines Kompaniechefs ist es ihm gelungen, einen Posten zu finden, auf dem er nicht riskiert, getötet zu werden oder selbst töten zu müssen: als Hilfskraft beim Stab – wegen seines amerikanischen Hintergrunds beherrscht er nämlich eine neue Kunst, die des Maschineschreibens. Die Erschütterungen, die ihn in jener ersten Nacht im Schützengraben aus dem Gleichgewicht gebracht haben, sind nicht verflogen. Im Gegenteil: D’Aquila befindet sich in einem Zustand der Verwirrung, der am ehesten einer Glaubenskrise gleicht. Dies äußert sich auf zweierlei Weise. Als Nachdenken darüber, wie sich ein Christ in dieser Lage verhalten soll, und als Hoffnung, dass der Glaube ihn irgendwie retten möge. Eine Hoffnung, die sich langsam zu einer Zuversicht wandelt. Zweimal hat er an nächtlichen Patrouillen draußen im Niemandsland teilgenommen, und beide Male ist er trotz erheblicher Gefahren unversehrt zurückgekehrt. Vielleicht ist er doch auserwählt? Die unerwartete Abkommandierung zum Brigadestab versteht er jedenfalls als göttliches Zeichen.
    Aber das, was er beim Stab erlebt, bereitet ihm nicht weniger Angst und Schuldgefühle.
    Die Stabsoffiziere treten aus ihrem geschützten Befehlsstand. Sie haben ein Frühstück aus Toast und Schokolade zu sich genommen, das mit Wein abgerundet wurde. Sie begeben sich in einen sicheren Unterstand. Alle Helfer machen sofort Platz und nehmen Haltung an. Der Gruß wird von den Offizieren kaum beantwortet, sie wollen Platz nehmen. Adjutanten rücken ihnen Stühle zurecht, reichen ihnen Ferngläser.
    Die Vorstellung kann beginnen.
    Das Sturmfeuer hört auf. Die letzten Granaten zerreißen die kühle Luft, rauschen auf die ‹Zwei Schwestern› hinunter. Der weiße Rauch wird vom Wind verweht.
    Es wird still.
    Es ist lange still.
    Dann plötzlich Unruhe in den ersten italienischen Schützengräben. Reihen von Männern in graugrüner Uniform bewegen sich auf die steilen Berghänge zu. Zu den Gruppen von kletternden, kriechenden, springenden Soldaten gehört auch D’Aquilas Kompanie, die siebte. Es geht langsam voran. Aus dieser Entfernung erinnern ihre Körperhaltung und die Art der Fortbewegung an Menschen, die nach etwas suchen. Dann hört man das hohle Knattern österreichischer Maschinengewehre vom Typ Schwarzlose. Nacheinander eröffnen sie aus verborgenen Abwehrstellungen dort oben auf den bewaldeten Höhen das Feuer – die italienische Artillerie hat sie nicht zum Schweigen bringen

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