Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
der Grenadierschule gelernt hat, soll er als Chef die Position Nummer fünf in der Gruppe einnehmen, aber er stellt sich stattdessen an die Spitze.
Nachdem drei Soldaten in schneller Folge je fünf Granaten geworfen haben, klettert er mit sechs Männern aus dem Schützengraben, um die Barrikade zu umgehen. Die Deutschen haben offenbar darauf gewartet, denn die sechs Männer geraten sofort in ein Kreuzfeuer. Vier von ihnen fallen. Pollard bleibt aber unverletzt und springt zurück in den Schützengraben. Dort empfängt ihn die Explosion einer deutschen Handgranate. Die Druckwelle wirft ihn gegen die Barrikade. Überall an seinem Körper sieht er kleine rote Punkte, wo Splitter eingedrungen sind. Er richtet sich auf.
Sie reißen die Barrikade ein. Die Gruppe eilt weiter durch die Windungen der Schützengräben. Die ganze Zeit werfen sie Handgranaten nach vorn. Die Deutschen vor ihnen weichen zurück, während andere an den Seiten auf die Bäume klettern und Pollards Gruppe aus einem Abstand von weniger als vierzig Metern unter Beschuss nehmen. Von seinen Männern fällt einer nach dem anderen. Er wendet sich einem der Soldaten zu, um einen Befehl zu geben, aber der Mann wird im selben Moment von einer Kugel am Hals getroffen. Pollard versinkt in einem seltsamen, traumähnlichen Zustand:
Es war, als ob sich mein Geist von meinem Körper löste. Mein physischer Körper wurde zu einer Art Maschine, die mit kühler Präzision ihr Werk verrichtete, während mein Geist sie lenkte. Etwas außerhalb von mir schien zu sagen, was ich tun sollte, und ich zweifelte nicht. Gleichzeitig war ich ganz sicher, dass ich durchkommen würde.
Sie gelangen zu einer zweiten Barrikade aus Sandsäcken. Sie wird auf die gleiche Weise passiert wie die erste. Pollard will einem der verbliebenen Soldaten gerade einen Sack Handgranaten geben, als der Mann plötzlich zusammenbricht. Gleichzeitig spürt Pollard, wie seine eigene rechte Hand herunterfällt und der Sack seinem Griff entgleitet. Eine Kugel hat den Mann vor ihm gerade durchbohrt, dann die Richtung geändert und ist mit der stumpfen Seite nach vorn in Pollards Schulter gedrungen, wo sie stecken geblieben ist. Ihn schwindelt, und er sieht einen roten Fleck sich auf seinem Jackenärmel ausbreiten. Seine Knie geben nach. Jemand gibt ihm eine Mischung aus Wasser und Rum zu trinken. Er richtet sich schwankend auf, treibt seine Soldaten weiter.
Das Letzte, woran er sich erinnert, ist der Gedanke, nicht ohnmächtig werden zu dürfen: «Nur Mädchen werden ohnmächtig.» Dann verliert er das Bewusstsein.
58.
Sonntag, 3. Oktober 1915
Vincenzo D’Aquila feuert zum ersten Mal im Kampf seine Waffe ab
Der Befehl ist klar und erschreckend zugleich. Am Morgen sind er und die anderen in die Schützengräben geschickt worden, als Ersatztruppe im 25. Regiment, 2. Bataillon, 7. Kompanie. Sie sind völlig durchnässt, nachdem sie eine Nacht unter freiem Himmel verbracht haben. Der Schützengraben selbst liegt ganz vorn, mit Aussicht auf den konusförmigen Monte Santa Lucia am Isonzo. D’Aquila landet in einem Seitenarm des Laufgrabens. Ein tiefes, steiles Tal trennt die italienischen von den österreichischen Stellungen, die höher gelegen sind. Sein Kompaniechef ist ein Fähnrich mit Namen Volpe.
Die Anfänger werden eingewiesen. Wenn die Sonne untergegangen ist, sollen alle anfangen zu schießen. Alle. Und das Feuer soll die ganze Nacht anhalten. Damit will man einerseits die Gegner stören, anderseits mögliche Überraschungsangriffe im Schutz der Dunkelheit verhindern.
Die letzten Strahlen der untergegangenen Sonne erlöschen am Horizont, die Landschaft wechselt von Grau in Schwarz. Das Schießen beginnt. Entlang der gesamten Front des Bataillons flammen sekundenschnelle Mündungsfeuer auf. D’Aquila wundert sich: über das planlose Schießen in die nächtliche Dunkelheit hinein, über die kolossale Munitionsvergeudung (ein ums andere Mal hat er zu hören bekommen, wie unvorbereitet Italien auf diesen Krieg war, dass es an allem fehlt, angefangen bei Geld und Nahrung bis hin zu Kanonen und Munition), darüber, dass er, aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz, jetzt vielleicht im Begriff ist, einen anderen Menschen umzubringen. Wie bei so vielen anderen Freiwilligen haben seine Gedanken hauptsächlich um den eigenen Tod gekreist, nicht um die Tatsache, dass von ihm erwartet wird, selbst zu töten.
D’Aquila betrachtet den Himmel. Er ist sternenklar. Nein, er will nicht, er kann
Weitere Kostenlose Bücher