Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
nicht. Aber was geschieht, wenn er den Befehl verweigert? D’Aquila fasst einen Entschluss. Er ist hier aus eigenem Willen; er hat es selbst so gewollt. Und er wird sich nicht weigern anzugreifen, wenn es so weit ist; wenn sie ihm sagen, dass er den Schützengraben verlassen und gegen die anscheinend uneinnehmbaren österreichischen Stellungen dort oben auf dem kleinen Berg anstürmen soll, ja, dann wird er es tun. Er wird seinen Mann stehen. Aber er hat nicht vor zu töten. Nicht jetzt, überhaupt niemals. Und vielleicht wird irgendeine höhere Macht es sehen und seine Haltung mit einem Nicken anerkennen und D’Aquila selbst von allem Bösen verschonen? Er hebt sein geladenes Gewehr, zielt in den dunklen Nachthimmel und drückt ab. Im Laufe der Nacht feuert er auf diese Weise Hunderte von sinnlosen Schüssen ab.
Erst im Morgengrauen beginnt die Schießerei abzuebben. Als die ersten Dunstschleier aufsteigen, legt sich wieder Schweigen über das Tal mit seinen Herbstfarben.
***
Am selben Tag befindet sich Pál Kelemen an der serbischen Grenze und schreibt in sein Journal:
Wir sind in eine endlose Ebene verlegt worden. Überall Soldaten und Pferde. Blaugraue Wolken hängen tief am Horizont. Hier beginnen die Donausümpfe; die satte ungarische Ebene verliert sich in einer gewaltigen Schilffläche. Deutsche Infanterie marschiert mit festem Schritt nach Süden. Das Riedgras biegt sich leicht im Wind, als müsste alles vor dem Dröhnen dieser schweren Kanonen drüben an der Donau erzittern.
59.
Mittwoch, 6. Oktober 1915
Florence Farmborough verlässt Minsk und wird von Zahnschmerzen geplagt
In der Luft ist eine neue Schärfe. Die Nächte werden immer länger und kälter. Ein Backenzahn in Florence’ Mund hat sich schon seit einiger Zeit mit Anflügen von Schmerz gemeldet, aber heute sind deutliche Pulsschläge zu spüren. Sie sitzt in ihrem Wagen, stumm und verbissen, das Gesicht hinter dem Schleier verborgen, den sie auf dem Marsch zum Schutz vor Sonne und Staub zu tragen pflegt.
Vor drei Tagen haben sie Minsk verlassen, die Stadt, in deren Straßen es von Uniformierten wimmelt und wo die Schaufenster mit Kostbarkeiten gefüllt sind. Die Stadt ist eine Offenbarung gewesen, nicht zuletzt weil sie von Farben funkelte wie Rosa und Weiß, Farben, die sie fast vergessen haben in den Monaten, als sich ihre Existenz in Nuancen von Braun bewegte, Braun der Erde, der Straßen und der Uniformen. Sie und die anderen Krankenschwestern – mit ihren schlecht sitzenden, verfärbten Kleidern, ihren groben, geröteten Händen und müden, sonnenverbrannten Gesichtern – hatten sich etwas verlegen, aber nicht ohne Stolz mit den wohlgekleideten Damen der Minsker Gesellschaft gemessen. Und sie waren, seltsam aufgeräumt, abgezogen zu dem vertrauten Geräusch dumpf rumorenden Artilleriefeuers und zaghaft surrender Flugzeuge, vorbei an noch grünen Feldern, durch Wälder in Gelb und Rot und Rotbraun.
Der große russische Rückzug ist praktisch beendet. Beide Seiten haben begonnen, sich zum Winter einzugraben. Florence’ Einheit marschiert jetzt in einem spürbar geringeren Tempo. An einem normalen Tag bewegt sich die lange, schwankende Kolonne von Pferdewagen höchstens drei Meilen weit. Aber sie sind zufrieden, denn jetzt sind sie nicht mehr auf der Flucht; noch einmal haben sie auf eine Wendung des Schicksals zu hoffen begonnen.
Auf den Feldern ringsum und in den Gräben sind aber noch Spuren des Rückzugs zu erkennen. Dort liegt massenweise totes Vieh, Tiere, die mitgenommen wurden, damit sie nicht in die Hand des Feindes fallen, die aber auf den langen Tagesmärschen umgekommen sind. Sie sieht tote Kühe, tote Schweine, tote Schafe. Und sie erinnert sich:
Ich dachte daran, wie ich einmal in den ersten Monaten des Rückzugs ein Pferd fallen sah; ich glaube, es war auf diesen entsetzlichen Sandwegen bei Molodych. Die Männer schnitten das Tier sofort von der Deichsel der Kanone los und ließen es einfach am Weg liegen, ohne auch nur mit einem Wort über das Geschehene zu klagen. Ich erinnere mich, dass sich, als wir vorbeikamen, die Flanken des Tiers bewegten und dass seine Augen uns anblickten und darin der gleiche Ausdruck war wie bei einem menschlichen Wesen, das allein zurückgelassen wird, um in Einsamkeit zu leiden und zu sterben.
Dann machen sie halt. Die lange Kolonne kommt zum Stehen. Sie sind auf einem Platz angelangt, wo der Weg über ein mit Tannen bewachsenes Moor führt. Einige Wagen der anderen
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