Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
entfernt. Deshalb erregt es ein gewisses Aufsehen, als am Nachmittag ein Soldat eintrifft, der im Dorf von einem Haus aus beschossen und am Bein verwundet wurde. Eineinhalb Stunden später kommt noch ein Soldat, der am gleichen Ort verwundet wurde; der Mann hat einen Bauchschuss erlitten.
Man schickt eine Patrouille los, die die Sache untersuchen soll. Nach einer Weile kehrt sie zurück. Sie führt eine schlecht gekleidete Person mittlerer Größe mit sich. Die Hände des Mannes sind gefesselt. Ihm folgen offenbar seine Angehörigen und Nachbarn, Frauen und Kinder und einige ältere Männer. Pál Kelemen notiert in seinem Tagebuch:
Der Mann wurde mit Hilfe eines Dolmetschers verhört, und man vernahm auch die wichtigsten Zeugen. Es scheint, dass er trotz wiederholter Warnungen der anderen Dorfbewohner rücksichtslos auf unsere Soldaten geschossen hat. Als der Mann über die Menschen hinwegblickt, die sich versammelt haben, sieht er aus wie ein Halbwilder, der aus einer anderen Welt hierher verpflanzt worden ist.
Bald wird das Urteil verkündet: Der Guerillakämpfer soll gehängt werden. 61
Ein Mann vom Küchendienst, ein Schweinemetzger aus Wien, übernimmt mit Freuden die Rolle des Henkers. Er holt ein langes Seil und findet eine leere Kiste, die die nötige Fallhöhe liefern soll. Der serbische Guerillamann erhält die Möglichkeit, sein letztes Gebet zu sprechen, antwortet aber, dass er darauf verzichte. Die Frauen weinen, die Kinder wimmern und starren, wie gelähmt vor Schreck, während sich Soldaten um den Baum versammeln, bedächtig und ohne irgendwelche Gebärden, aber mit Erregung in den Augen.
Der serbische Guerillakämpfer wird von zwei Soldaten hochgehoben. Er zeigt keine besonderen Gefühle, sein aggressiver Blick aber wirkt etwas irre. Die Schlinge wird ihm um den Hals gelegt und die Kiste unter seinen Füßen weggezogen. Es zeigt sich, dass das Seil zu lang ist, und der Schlachter bringt es mit einem kräftigen Ruck auf die richtige Länge. Langsam verzerrt sich das Gesicht des Mannes. Zuckungen gehen durch seinen Körper. Er stirbt. Die Zunge tritt aus seinem Mund, während er mit immer steiferen Gliedmaßen hin und her baumelt.
In der Dämmerung zerstreut sich die Menge. Zuerst verschwinden die Soldaten, dann die Zivilisten. Später sieht Kelemen zwei Soldaten den Weg entlangkommen. Sie entdecken den Körper, der im Herbstwind baumelt, treten näher heran und lachen höhnisch. Der eine verpasst der Leiche einen kräftigen Stoß mit dem Kolben seines Gewehrs, woraufhin die beiden militärisch grüßen und ihres Weges gehen.
62.
Sonntag, 7. November 1915
Richard Stumpf sieht in Kiel zwei Akte des «Lohengrin»
Es ist ein angenehm sonniger und warmer Novembertag. Die SMS Helgoland läuft in den Kaiser-Wilhelm-Kanal ein, und sofort schwirren die Gerüchte. Bei Riga hat es ja harte Landkämpfe gegeben; vielleicht sollen sie zur Unterstützung in die Ostsee? Sind die Engländer unterwegs durch den Großen Belt? Oder wird das neutrale Dänemark in den Krieg hineingezogen? Oder vielleicht gibt es noch eine Übung in Torpedoschießen? Stumpf tippt auf das Letztere, «dann bin ich jedenfalls nicht noch einmal enttäuscht».
Die Stimmung ist jämmerlich. Stumpf und die anderen sind die Untätigkeit leid, das immer schlechtere Essen, haben die harte Disziplin satt, die Schinderei durch die Offiziere. An Bord gibt es ein besonderes Strafkommando, und täglich kann man zwanzig bis dreißig Soldaten um das Schiff herumrennen sehen, mit Gewehr und vollem Kampfgepäck. Es reicht wenig, um bestraft zu werden: eine schmutzige Waschschüssel, eine irgendwo liegengelassene Socke, ein Toilettengang während der Dienstzeit, ein missliebiger Kommentar. Stumpf schreibt in sein Tagebuch:
Der Geist unter der Besatzung ist nun bereits so, dass jeder sich darüber freuen würde, wenn wir so eine «Zigarre» in den Wanst kriegten. Ganz im Ernst würde das jeder unserer furchtsamen Führung gönnen. Hätte das einer vor anderthalb Jahren gesagt, hätte er eine Wucht Prügel bekommen. Es ist ein böser Geist, der in uns steckt, und nur der guten Bildung des Einzelnen ist es zu danken, wenn nicht die Vorkommnisse in der russischen Ostseeflotte bei uns ein verstärktes Echo finden. 62 Wir wissen eben alle, dass wir in einem solchen Falle mehr zu verlieren haben als unser Elend.
Als sie durch den Kanal fahren, sieht Stumpf Wälder und Hügel in verschiedenen Schattierungen von Gelb, Rot und Braun
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