Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
leuchten. Bald wird es schneien.
Es ist Abend, als sie in Kiel ankommen. Er stellt fest, dass man die früher so strenge Verdunkelung weniger genau zu nehmen beginnt. Steckt eine Überlegung dahinter? Oder ist dies nur ein weiterer Beleg dafür, dass die Leidenschaft aus dem ersten Jahr sich allmählich verbraucht? Die Besatzung darf an Land gehen. (Nein, auf sie wartet kein Kampf, es folgen noch ein paar Tage mit Torpedoübungen.) Richard Stumpf eilt in eines der Theater der Stadt, wo er gerade noch die beiden letzten Akte von Wagners Lohengrin verfolgen kann. Später kommentiert er in seinem Tagebuch:
Schade, dass mir nicht öfter Gelegenheit gegeben wird, so etwas zu sehen. Man fühlt sich da mit einem Mal wieder als Mensch und nicht als unnützes Herdentier.
63.
Freitag, 12. November 1915
Olive King und das Licht in Gevgelí
Eigentlich wollte sie Frankreich gar nicht verlassen. In einem Brief von Mitte Oktober an ihre Stiefmutter lässt sie ausnahmsweise einmal so etwas wie Missmut erkennen:
Manchmal zweifle ich daran, ob ich jemals wieder nach Hause komme, als sollte dieser verfluchte Krieg ewig dauern. Statt zu Ende zu gehen, steigert er sich die ganze Zeit, immer mehr Länder werden hineingezogen, alles wird schlimmer und schlimmer. Und was uns betrifft, so haben wir keine Ahnung, wohin wir sollen.
Die Frauen im Scottish Women’s Hospital hatten inzwischen erfahren, dass sie mit dem Schiff zum Balkan geschickt werden sollten, wo ein französisch-englisches Korps unter Sarrail Anfang Oktober in Saloniki im neutralen Griechenland landete, um die Serben beim Errichten einer neuen Front zu unterstützen. 63 King wollte zuerst nicht fahren. Ihr großer Ambulanzwagen war viel zu schwer und der Motor zu schwach für die schlechten Straßen dort.
Drei Wochen hatte das Schiff gebraucht, um King und die anderen Frauen nach Griechenland zu bringen. Ein Lazarettschiff mit demselben Ziel war von einem deutschen U-Boot versenkt worden. In Saloniki erwartete sie kolossale Verwirrung – militärisch, politisch, praktisch. Befehl folgte auf Gegenbefehl, die Straßen der Stadt waren ein «Meer aus schwarzem Schlamm». Im November wurden sie schließlich per Zug nach Gevgelí an der Grenze zwischen Griechenland und Serbien geschickt, um dort ein Feldlazarett zu errichten.
Diesmal haben sie ihre Zelte bei sich, aber keine Heringe, und die, die sie provisorisch benutzen, halten schlecht in dem felsigen Untergrund. Tag und Nacht muss jemand herumgehen, um die Heringe, die sich gelockert haben, festzuklopfen und schlaff gewordene Zeltleinen zu spannen. Das ist eine ihrer Hauptbeschäftigungen. Eine andere besteht darin, die Kleidung der Patienten zu waschen und zu desinfizieren. Sie hat keine Angst vor Läusen. Und es ist keineswegs so kalt, dass man nicht Körper und Haare im Fluss waschen könnte.
Ihr Speisesaal hat elektrisches Licht, der Strom kommt von einem Aggregat, das für das Röntgengerät benutzt wird, doch es wird abends um halb acht ausgeschaltet, und da sie wegen der Brandgefahr kein Licht mit offener Flamme in den Zelten haben dürfen, bleibt ihnen nicht viel anderes übrig, als ins Bett zu gehen. Es wird früh dunkel. Schon um fünf Uhr ist es pechschwarz. Dafür wird es schon weit vor sechs hell. Jeden Tag sieht sie die Sonne aufgehen und genießt den Anblick. Die umliegenden Hügel sehen aus wie purpurner Samt, und die Bergspitzen glühen rosa im Sonnenlicht.
Olive King ertappt sich dabei, dass sie glücklich ist. Sie schreibt an diesem Tag in einem Brief an ihren Vater: «Dies ist ein herrliches Fleckchen Erde. Die Berge strahlen und die Luft ist so erfrischend. Jeden Tag arbeiten wir wie Riesen und essen wie Wölfe.»
64.
Sonntag, 14. November 1915
Pál Kelemen besucht das Offiziersbordell in Uzice
Der Feldzug ist siegreich beendet worden. Serbien ist okkupiert. Sarajevo ist gerächt. Die Sieger können ihren Lohn einstreichen. Heute Abend besuchen Kelemen und einige seiner Kameraden ein Bordell, das für Offiziere reserviert ist. Es befindet sich in Uzice, einer kleinen Stadt an dem Fluss Detinja. Kelemen notiert in seinem Tagebuch:
Dunkle Halle, Teppiche, Bilder an der Wand. Ein krumm gebeugter Zivilist klimpert auf einem Klavier. Vier Tische in den vier Ecken. Vier Mädchen in einem Zimmer. Zwei von ihnen rangeln mit einem Artillerieleutnant. An einem anderen Tisch sitzen ein paar Armeeoffiziere und trinken schwarzen Kaffee. Unter einer Lampe sitzt ein Fähnrich der
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