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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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Landwehrhusaren und liest in einer alten Tageszeitung.
Das ist die Szenerie, als wir hereinkommen. Wir setzen uns an den einzigen freien Tisch und bestellen Rotwein, aber nachdem wir ihn gekostet haben, entscheiden wir uns lieber für Kaffee. In einer Ecke hantiert Mohay, mein Kadett, mit dem Grammophon, aber ohne Erfolg. Eine Feder muss kaputt sein.
Eines der Mädchen verlässt den Raum und kommt später zurück.
Sie springt über einen Stuhl und setzt sich unserem Kadetten auf den Schoß. Die andere, ein schwarzhaariges Mädchen in rotem Kleid, liegt ausgestreckt auf einer Bank und starrt mich an.
Die Zeit vergeht. Der Pianist mit dem boshaften Gesicht spielt immer noch. Ich erkenne es wieder – es ist die Musik, die ich einst zu Hause gespielt habe, im Zimmer eines Mädchens, zu dem ich gegangen war, um ihm Lebewohl zu sagen. Es ist eine Ewigkeit her, und weit weg von hier.
Ich stehe auf und gehe. Wenn sie glauben, der Wein sei mir nicht bekommen, irren sie sich.

65.
    Samstag, 27. November 1915
    Kresten Andresen besucht ein Geburtstagsfest in Lens
     
    Kalter Regen und Wind. Kahle, entblätterte Bäume. Grau, grau, alles ist grau: das Wetter, ihre Uniformen, der immer dünnere Kaffee. Aber es ist ein freier Tag. Er braucht erst zur Nacht wieder zurück zu sein, also nützt Andresen die Gelegenheit, ein paar Freunde von zu Hause zu besuchen, die in der 2. Kompanie Dienst tun. Es ist lange her, dass er mit jemandem Dänisch sprechen konnte. Er hat sich einsam gefühlt.
    Tag und Nacht, ja, das Leben im Schützengraben verändert sich nicht selten im Rhythmus des Lichts. Das hat er während dieser letzten Abkommandierung erfahren können. Er gräbt und gräbt, vor allem bei Nacht und vor allem am Fuße dieser berüchtigten Lorettohöhe, die die Franzosen während ihrer letzten Offensive im Mai eingenommen haben. Zurzeit ist es aber ruhig an der Front. Tagsüber bewegen sich Deutsche und Franzosen ganz offen, in Sichtweite voneinander. Und von keiner Seite aus wird geschossen. (Von manchen besonders Mutigen heißt es sogar, dass sie die feindlichen Schützengräben besuchen.)
    Dies ist ein Beispiel für den stillen Pakt, der mancherorts während des Krieges geschlossen wurde: Leben und leben lassen, wenn ihr uns nicht stört, stören wir euch auch nicht.  64 Aber das gilt am Tage. Die Nächte sind fast immer unruhiger, geräuschvoller, unangenehmer. Die Dunkelheit schafft Unsicherheit, Unsicherheit gebiert Angst. Es ist, schreibt Andresen in sein Tagebuch, wie die Geschichte «von dem Mann, der die Gestalt wechselte, am Tage war er ein Mensch und in der Nacht ein wildes Tier». Wird jemand getötet, geschieht es in der Regel bei Nacht.
    Gegenwärtig sind sie in Lens stationiert, einer mittelgroßen Bergbaustadt. Das passt ihm gut, denn hier gibt es mehr zu sehen und auch mehr zu tun als auf dem Lande. Andresen geht die Rue de la Bataille entlang, als es passiert.
    Granaten.
    Projektile schwirren pfeifend durch die Luft. Ein besonders großes schlägt in ein Haus direkt vor Andresen ein, und er sieht, wie das Dach teilweise bis zu zehn Meter hoch in die Luft gehoben wird. Er sieht Menschen aus dem Nachbarhaus eilen. Er sieht einen großen Granatsplitter in den Rinnstein einschlagen. Er sieht das Wasser aufspritzen. Er ist zuerst wie gelähmt, sagt dann aber zu sich selbst: «Du musst laufen.» Und er läuft, durch die Druckwellen, durch das Geräusch neuer Detonationen von beiden Seiten. Und er findet Deckung.
    Als er sich wieder hervorwagt, hat es schon zu dämmern begonnen. Es ist wieder ruhig. Auf den Bürgersteigen sind Menschen zu sehen, die spazieren gehen. An vielen Stellen sind die Leute damit beschäftigt, Glassplitter von zerstörten Fensterscheiben zusammenzufegen. Auf einem Platz sieht er einen Soldaten neben einem Strohhaufen Wache stehen. Dort hat eine Granate zwei Soldaten und ein Pferd buchstäblich in Stücke gerissen. Das Stroh, das auf die wild verstreuten Überreste gelegt wurde, soll vermutlich den Anblick verbergen. Andresen sieht aber, dass die Wand daneben mit Blut bespritzt ist. Er schaudert, eilt weiter, und tritt fast auf etwas Wurmähnliches, das auf dem Bürgersteig liegt.
    Schließlich erreicht Andresen die 2. Kompanie. Einer der Dänen dort, Lenger, hat Geburtstag und lädt zu Kaffee und selbstgebackenem Kuchen ein. Endlich kann Andresen Dänisch sprechen. Leider muss er bald wieder aufbrechen.
    Um neun Uhr abends marschieren sie hinaus zur nächtlichen Erdarbeit. Zuerst glaubt er,

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