Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
verläuft. Vor zwei Tagen wurden sie von einer schwer bewaffneten Schaluppe überholt, die eine Stabseinheit transportierte und von einer improvisierten hölzernen Schutzwand umgeben war. Der Verkehr auf dem Fluss war mit anderen Worten alles andere als sicher. Jetzt hält das Dampfschiff, auf dem Mousley sich befindet, auf Land zu, und er begreift sofort, dass etwas Ernstes geschehen ist. Die Bewegungen der Leute wirken gehetzt. Er sieht, dass die Pferde ungestriegelt und erschöpft sind. Er sieht Wagen und Zaumzeug, mit Staub. Und er erkennt ganze Bataillone in Tropenhelmen aus Kork, die ungeordnet auf dem nackten Boden liegen und schlafen.
Er geht zwischen den erschöpften Männern und Tieren umher und sieht dann eine kleine Flagge über einer Lehmhütte wehen, als Zeichen, dass der Artilleriekommandeur des Korps sich hier aufhält. Der Offizier berichtet Mousley, was geschehen ist. Vor sechs Tagen hat bei Ktesiphon, nur fünfundzwanzig Kilometer südlich von Bagdad, eine große Schlacht stattgefunden. Dort hatte die osmanische Armee sich eingegraben. Dem britischen Korps war es gelungen, die erste Verteidigungslinie zu stürmen, doch dann hatte man sich festgerannt. Beide Seiten erlitten große Verluste, und da beide Seiten Gerüchte gehört hatten, dass der Gegner erhebliche Verstärkung erhalten sollte, endete die Schlacht damit, dass beide Seiten in ihrer Verwirrung das heiße, staubige und mit Leichen übersäte Schlachtfeld verließen.
Die britischen Truppen haben ohnehin nicht mehr die Kraft, weiter in Richtung Bagdad vorzurücken, sondern müssen stattdessen eine riesige Zahl Verwundeter versorgen. Das Korps verfügt über vier Feldlazarette mit einer Kapazität für vierhundert Patienten, dort sollen nach der Schlacht aber 3500 Verwundete behandelt werden. In der 76. Batterie, in der Mousley jetzt Dienst tun soll, sind alle Offiziere bis auf einen verwundet. Im Gegensatz zu den britischen Truppen bekam die osmanische Armee tatsächlich Verstärkung, sodass sie kehrtgemacht hat, um die sich zurückziehenden Briten zu verfolgen.
Am Abend hilft Mousley beim Bau von Feldbefestigungen, die Azizie in einem Halbkreis umschließen. Er stellt fest, dass es erstaunlich leicht und schnell geht. Wie vielen anderen fällt es ihm anfangs noch schwer, das Gefühl zu verdrängen, dass er an einem Manöver zu Friedenszeiten teilnimmt. Doch er braucht nur den Zustand der ramponierten und beschädigten Wagen zu sehen, die übrig gebliebenen Zugpferde an Geschützen und Karren und die scheuen Blicke der Soldaten, um zu erkennen, dass dies nicht der Fall ist.
Man bringt so viele Verletzte wie möglich an Bord von Kähnen und Flussschiffen; auch alle überflüssige Ausrüstung wird weggeschafft. Mousley ist einer von denen, die auf diese Weise ihr Gepäck von unnötiger Reitausrüstung, von Uniformteilen und Lagerutensilien befreien können. 66 Sein Pferd Don Juan behält er natürlich.
Als die Dunkelheit hereinbricht, legt sich Mousley neben seiner feuerbereiten Batterie zum Schlafen nieder. Irgendwo draußen in der Nacht liegt die osmanische Armee. Ab und zu fallen Schüsse. Er hört das Heulen von Schakalen, die auf neue Kadaver – menschliche oder tierische – lauern und dem britischen Korps seit Ktesiphon gefolgt sind. Je mehr die Müdigkeit ihn übermannt, desto schwächer und ferner klingt ihr «gespenstischer Gesang». Dann schläft er ein.
67.
Donnerstag, 9. Dezember 1915
Olive King nimmt den letzten Zug von Gevgelí
Der Befehl, den sie erhalten, ist die endgültige Bestätigung der totalen serbischen Niederlage. Für Olive King jedoch beendet er eine aufwühlende, zugleich aber seltsam glückliche Zeit.
Die Arbeit in Gevgelí ist hart gewesen. Das Feldlazarett hatte dreihundert Betten, aber beinahe siebenhundert Patienten. Sie erleben einen Wintereinbruch. Im letzten Monat gab es mehrere starke Schneestürme, und Zelte sind um- oder fortgeweht worden. Wegen der Kälte konnten sie nachts kaum schlafen. King fand, dass Graben die beste Methode war, sich warm zu halten. Die tägliche Arbeitszeit betrug sechzehn bis zwanzig Stunden. Ihre wichtigste Aufgabe bestand darin, die Petroleumlampen zu warten, mit denen die Zelte erleuchtet wurden: anzünden, säubern, die Dochte trimmen, Petroleum nachfüllen – eine Beschäftigung, die sie als tödlich langweilig empfand. Sie fing an, Serbisch zu lernen. Läuse breiteten sich aus. Ihrer Schwester berichtete sie fröhlich:
Wir bekommen nie Zeitungen und
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