Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
jede Feldkanone gibt es nun etwa eintausend Projektile, was man für völlig ausreichend hält. Und alle haben sich ausruhen können.
Deshalb ist der Optimismus in der russischen Armee wieder gewachsen. Man hat jetzt fast verdrängt, dass man in knapp anderthalb Jahren rund vier Millionen Mann verloren hat. 4 Stattdessen hoffen, ja, glauben viele, das neue Jahr werde jenen Wendepunkt im Krieg herbeiführen, von dem man immer hört. Man spricht häufig von einer kommenden russischen Offensive. 5
Es herrscht auch eine neue Aggressivität unter den Soldaten. Florence weiß seit einiger Zeit, dass an ihrem Frontabschnitt eine neue Operation vorbereitet wird. Gestern hat sie bei einem Essen erfahren, worum es geht: um einen sogenannten verstärkten Spähangriff, der von zwei Bataillonen ausgeführt wird und sich gegen einen Teil der deutschen Verteidigungslinie richtet. Dadurch sollen die Kräfte des Feindes erkundet und zugleich ein paar Gefangene gemacht werden. Viele von denen, die an dem Angriff teilnehmen sollen, sind taufrische Rekruten, eifrige junge Männer, die sich freiwillig gemeldet haben. Sie sollen heimlich Breschen in die deutschen Drahtbefestigungen schlagen, ein gefährlicher Auftrag, den sie in ihrer Naivität eher für einen spannenden Streich halten. (Sie haben eine Spezialausrüstung in Form weißer Overalls bekommen.) Der Plan sieht vor, dass Florence und ein Teil ihrer Einheit gleich hinter der Front bereitstehen, um Verwundeten Hilfe zu leisten.
Schon am Morgen wollen sie losmarschieren und einen Verbandsplatz einrichten, aber die Stunden verrinnen. Erst gegen halb elf am Abend kommt der Marschbefehl. Sie hatten geplant, Zelte aufzustellen, aber zu ihrer Freude können sie ihre Ausrüstung in einer Hütte aufbauen, die sich etwa anderthalb Kilometer hinter den Schützengräben in einem kleinen Wald befindet. Das Wetter ist schlecht: heftiger, kalter Wind und Schneeregen.
Die Ärzte sind nervös. Wer weiß, wie die Deutschen auf einen solchen Überfall reagieren werden? An der Front ist es noch ruhig. Kein Schuss ist zu hören. Sie setzen sich also hin und warten. Mitternacht ist vorbei. Nach einer Weile taucht der Divisionschef auf, sie bieten ihm Tee an. Das Warten geht weiter. Um zwei Uhr erhält der Divisionschef einen Bericht per Telefon. Gute und schlechte Nachrichten. Der erste Versuch, sich einen Weg durch den deutschen Stacheldraht zu bahnen, musste abgebrochen werden, aber man hat einen neuen gestartet.
Warten, Schweigen. Dann ein weiteres Telefongespräch. Alles läuft wie geplant. Die Späher sind dabei, sich durch die Hindernisse zu arbeiten. Die Menschen in der kleinen Hütte atmen auf und lächeln sich erleichtert zu.
Mehr Warten, mehr Schweigen. Es ist drei, dann vier Uhr.
Da passiert es.
Die Stille wird vom Krachen gleichzeitig feuernder Geschütze, Maschinengewehre und Gewehre zerrissen. Jetzt hat der Angriff begonnen, oder? Das Dröhnen hört nicht auf. Noch ein Telefonrapport. Der Spähtrupp wurde entdeckt und steht unter schwerem Beschuss. Der Durchbruch ist gescheitert.
Dann kommen die ersten Verwundeten, einige auf Tragen, andere von Kameraden gestützt, wieder andere aus eigener Kraft, hinkend. Zwei Farben dominieren die Szene: Weiß und Rot. Grell und scharf tritt das Blut auf den neuen Schneeanzügen der Soldaten hervor. Sie sieht einen Soldaten unter Schock, der eine Handgranate in der Hand hält und sich weigert, sie loszulassen; einen anderen, der im Bauch getroffen wurde, die Eingeweide hängen heraus – er ist schon tot; einen dritten, der einen Lungenschuss erhalten hat und um Luft ringt; einen vierten, der die Letzte Ölung erhält, aber schon so weit fort ist, dass er kaum die Oblate zu schlucken vermag. Weiß und Rot.
Als alles vorbei ist, geht Florence hinaus an die frische Luft. Von einem angrenzenden Abschnitt sind vereinzelte Schüsse zu hören, aber hier ist wieder alles still. Der verstärkte Spähangriff ist misslungen: 75 Mann sind tot, rund 200 verwundet. Der Regimentskommandeur ist verschwunden, er soll schwer verwundet irgendwo dort draußen im Stacheldraht liegen.
78.
Dienstag, 18. Januar 1916
Michel Corday nimmt die Metro zum Gare de l’Est
Kalte Luft. Winterhimmel. An diesem Morgen bringt Michel Corday einen alten Freund zum Bahnhof, einen Pionieroffizier, der sich zu seiner Einheit begeben muss. Die beiden nehmen die Metro zum Gare de l’Est. In der U-Bahn hören sie einen Infanteristen, der nach Ende seines Urlaubs auf dem
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