Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
Weg an die Front ist, mit einem Bekannten reden: «Ich würde meinen linken Arm dafür hergeben, dass ich nicht mehr zurück muss.» Der Infanterist erzählt, wie er einmal versuchte, sich selbst eine Verwundung zuzufügen, indem er seine Hand in die Schießscharte des Schützengrabens hielt. Eine Stunde lang hatte er sie hochgehalten, aber vergeblich.
Andere Gesprächsthemen an diesem Tag: Der Krieg hat dreitausend Menschenleben und 350 Millionen Franc gekostet, durchschnittlich, jeden Tag . Es ist davon die Rede, diese Kosten zu senken, um länger kämpfen zu können. Jemand benutzt den Ausdruck «Krieg auf Raten». Dass Montenegro – Serbiens und Frankreichs Verbündeter auf dem Balkan – gestern kapituliert hat, erhitzt die Gemüter. Eine echte Alternative gab es für Montenegro aber nicht. Das kleine Gebirgsland wurde von denselben deutsch-österreichischen Truppen besetzt, die auch die serbische Armee aus ihrem Land vertrieben haben. Jemand erzählt die Geschichte von einem deutschen Offizier, der schwer verwundet gefangen genommen wurde und sterbend flüsterte: «Es stimmt doch, dass Goethe … der größte Dichter der Welt ist?» Typisch deutsche Eitelkeit.
Als Corday und sein Freund am Gare de l’Est ankommen, ist es zehn Uhr vormittags. Überall sehen sie Männer in Uniform, sie sitzen zu Hunderten auf Gepäckkarren oder steinernen Brüstungen. Sie warten auf ihren Zug oder darauf, dass es elf Uhr wird. Davor ist es nämlich streng verboten, Männern in Uniform Getränke zu servieren. Corday hat von einem Minister gehört, der zwei Frauen samt dem Verlobten der einen zum Tee einladen wollte, was ihm höflich abgeschlagen wurde, da der Verlobte Uniform trug und die Uhrzeit nicht passte. Dann habe der Minister versucht, nur für die Damen Tee zu bestellen, aber auch das wurde ihm verwehrt, da der Soldat ja von dem Tee der Damen hätte trinken können. Der Kellner wies jedoch höflich auf den Eingang, wo sich eine Lösung für das Problem abzeichnete: Ein Offizier verließ gerade den Teesalon, damit seine Gesellschaft endlich etwas zu trinken bestellen konnte.
Auch auf den Bahnsteigen wimmelt es von Soldaten, die nach dem Urlaub zurück an die Front müssen. An den Waggons spielen sich herzzerreißende Abschiedsszenen ab. Frauen halten ihre Kinder hoch, damit die Männer in den offenen Fenstern ihnen einen letzten Kuss geben können. Das alles registriert Corday wie immer als kühler Beobachter. Sein Blick fällt auf einen Soldaten, dessen verzerrtes Gesicht sich in eine Trauermaske verwandelt hat. Der Schmerz des Mannes ist so offensichtlich, dass Corday sich sofort abwenden muss. Ohne sich umzusehen verlässt er den Bahnsteig.
79.
Mittwoch, 26. Januar 1916
Vincenzo D’Aquila wird in die Nervenheilanstalt San Osvaldo überführt
Es ist noch früh, einer der Pfleger bringt D’Aquila seine alte Uniform und sagt ihm, dass er sich umziehen soll. Dann wird er zu einem Büro geführt, wo ein Arzt in Hauptmannsuniform ihn erwartet. Sein Name ist Bianchi. D’Aquila nimmt Haltung an. Der Arzt empfängt ihn höflich, ist aber offenbar unangenehm berührt, er zögert. D’Aquila sieht einen Stapel Papiere auf dem Schreibtisch und kann von dem, was darauf steht, Bruchstücke erkennen. Es ist ein Befehl, ihn «zur Beobachtung und zur Verwahrung» in die Nervenheilanstalt San Osvaldo zu überführen. «Symptome: Zerebraltyphus von manischem Charakter – gefährlich für sich selbst und andere.»
D’Aquila ist wahnsinnig geworden. Jedenfalls finden die Ärzte, dass er sich so verhält. In D’Aquilas verwirrtem Geist hat das mit der Erkrankung und seiner vermeintlich wundersamen Genesung verbundene Erlebnis seine Auserwähltheitsphantasien in extremer Weise verstärkt. Er ist von dem Wahn besessen, im Auftrag einer höheren Macht von den Toten zurückgekehrt zu sein. Sein Auftrag? Den Krieg zu beenden. Er glaubt, Krankensäle seien etwas Übernatürliches. Er glaubt, Wunderheilungen zu vollbringen.
An Menschen, die der Heilung bedürften, besteht wahrlich kein Mangel. Kurz nach seinem Erwachen ist er nämlich in ein Kloster in der Nähe von Udine verlegt worden, in dem das Militär Soldaten zusammengelegt hat, die mit mentalen Problemen unterschiedlichster Art zu kämpfen haben. Diese Fälle nehmen immer mehr zu. Die Ärzte wissen nicht recht, was sie mit all diesen Männern und ihren seltsamen Krämpfen, ihren grotesken Zwangshandlungen und unerklärlichen Lähmungen anfangen sollen, diesen
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