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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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osmanische Infanterie den Versuch, die Stellung zu stürmen, und nachdem sie die britischen Maschinengewehre ausgeschaltet hatten, drangen die Angreifer in die Bastion ein, wo es zu einem Handgemenge kam. Am Schluss wurden die Eindringlinge jedoch in die Flucht geschlagen. Die Bastion war voller Toter. Die Soldaten, die den Angriff vor einer Woche abwehrten, befinden sich immer noch dort. Sie zeigen Mousley die vielen osmanischen Toten, die weiterhin verstreut herumliegen. Die Körper befinden sich im Zustand fortgeschrittener Verwesung, und der Gestank ist teilweise unerträglich. Manche Soldaten haben sich trotz des Gestanks und trotz der Bedrohung durch feindliche Scharfschützen hinausgewagt auf den Leichenteppich, um nach Souvenirs zu suchen. Ein indischer Soldat zeigt Mousley seine Trophäen: drei osmanische Tropenhelme und ein Offiziersschwert.
    Das Abendessen ist regelrecht genießbar: Kartoffeln (kleine Portion), Pferdefilet, Datteln und Brot. Der Abschluss ist auch gut. Ein Offizier bietet ihm eine burmesische cheroot  1 an, und gegen sieben Uhr zieht Mousley sich in seinen Schutzraum zurück, um sie andächtig zu rauchen.
    Der Schutzraum, den er mit dem anderen Feuerleitsoldaten, einem Hauptmann, teilt, ist für zwei Personen recht geräumig: rund fünf mal drei Meter. Leider ist er so niedrig, dass es unmöglich ist, aufrecht zu gehen. Mousley liegt auf seinem Bett, raucht und starrt an die Decke, die aus Balken mit einem Durchmesser von 15 bis 20 Zentimetern besteht; sie sind mit einer meterdicken Schicht Sand bedeckt. Er stellt fest, dass sich die Balken unter dem Gewicht der Abdeckung biegen. Er blickt zur Decke auf und versucht, sich ein Zitat von Aristoteles in Erinnerung zu rufen, ungefähr mit folgendem Wortlaut: «Auch wenn gewisse Planken stärker sind als andere, werden sie doch alle brechen, wenn das Gewicht schwer genug geworden ist.»
***
    Am selben Tag schreibt Paolo Monelli in sein Tagebuch:
     
Ist dies nicht genau das, was du dir gewünscht hast? An einem guten Feuer zu sitzen, draußen im Krieg, an einem Abend nach einem erfolgreichen Erkundungsmarsch, in Erwartung größerer Aufgaben. Unbeschwert frohe Lieder, das Gefühl, dass dies die beste Zeit in deinem Leben ist. Und die morbidesten Ängste sind verflogen.

75.
    Sonntag, 2. Januar 1916
    Vincenzo D’Aquila erwacht in Udine aus seinen Fieberträumen
     
    Niemand glaubte, dass er überleben würde, aber eine Injektion – war es Opium? – hat auf unergründliche Weise seinen Sturz in den Abgrund aufgehalten. Das Erste, woran er sich erinnert, ist eine der Krankenschwestern, die erstaunt ausruft: «Tu sei renato!» Du bist wiedergeboren! Aber zu was?
    Nur nach und nach entsinnt er sich, was eigentlich geschehen ist.
    Auf einem Kalender im Krankensaal kann er sehen, dass heute der 2. Januar 1916 ist. Er ist verwirrt. Der Krieg geht weiter, so viel ist ihm klar. Aber wie ist es eigentlich passiert, dass er vor dem Tod gerettet wurde, der in den Schützengräben auf ihn wartete? Hatte er es seiner Intelligenz oder seiner Gerissenheit zu verdanken? Nein, es war sein Glaube. Er kann nicht richtig loskommen von den Worten der Krankenschwester. Eine grandiose Idee überfällt ihn: Wenn sein Glaube ihm aus dem Krieg herausgeholfen hat, würde er dann nicht das Gleiche auch für alle anderen Soldaten tun können?
    Eine Krankenschwester tritt an sein Bett. Sie bringt ihm ein paar dünne Scheiben Topfkuchen und ein Glas warme Milch. Nachdem er gegessen hat, sinkt er in einen tiefen, friedlichen Schlaf.

76.
    Montag, 10. Januar 1916
    Pál Kelemen besucht den Schauplatz der Schüsse von Sarajevo
     
    Der letzte Monat hat wenig mehr als Patrouillen- und Besatzungsdienst gebracht. Die bergige Landschaft ist schneebedeckt, aber es ist nicht besonders kalt. Die Reste der aufgeriebenen serbischen Armee sind hinter den albanischen Bergen im Süden verschwunden und sollen von alliierten Schiffen ins Exil nach Korfu gebracht worden sein. Die regulären Schlachten in Serbien sind vorbei. Jetzt geht es nur noch darum, den Guerillakrieg zu beenden. Manche Teile des Landes haben ihre komplette männliche Bevölkerung verloren. Kelemen hat immer wieder Kolonnen mit Männern jeden Alters vorbeiziehen sehen: «Alte Männer, gebeugt von harter Arbeit, schleppen sich hilflos dahin, ihrem Schicksal ergeben wie zum Tode verurteilte Tiere. Und ganz hinten werden die Krüppel, die Geistesschwachen und die Kinder getrieben.» Und er kennt die Schneckenspuren gut,

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