Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
die diese traurigen Prozessionen hinterlassen, die ausgemergelten Leichen, die jeden zweiten Kilometer im Graben liegen, und die schwere, säuerliche Wolke von Gestank, die all diese ungewaschenen Körper absondern und die in der Luft hängen bleibt, auch wenn sie hinter der nächsten Wegbiegung verschwunden sind.
Den Skrupellosen bieten sich Gelegenheiten. In den serbischen Städten gibt es reichlich Frauen, die ihren Körper im Tausch gegen Lebensmittel, vielleicht ein bisschen Schokolade oder auch nur Salz, feilbieten. Er selbst hat auf den schnellen, ungehemmten Sex, wie er jetzt in den okkupierten Städten praktiziert wird, bislang verzichtet. Vielleicht ist er zu anständig? Oder zu eitel? Denn welchen Wert hat etwas, das so billig zu haben ist?
Seit Ende Dezember ist seine Einheit in Bosnien stationiert, und heute hält sich Kelemen in Sarajevo auf. Er notiert in seinem Tagebuch:
Es ist fast Mitternacht. Ich habe meine Gesellschaft verlassen und wandere am Flussufer entlang nach Hause. Es hat aufgehört zu schneien; alles liegt unter einem weißen Kleid. Auf dem gegenüberliegenden Ufer, im türkischen Stadtteil Sarajevos, liegt der Schnee dick auf den Kuppeln der Moscheen, und wenn ein Windstoß von den Berggipfeln herabweht, rutscht ein Teil der weißen Decke mit einem Krachen herunter, das die Stille in diesem schlafenden Land jäh unterbricht.
Die Straßen sind leer. Ein Nachtwächter mit Turban geht schlurfend vor mir, auf Pantoffeln, die aus Stroh gemacht sind. Ich erreiche das Ufer des Flusses Miljacka und stehe an der Straßenecke, wo die verhängnisvollen Schüsse auf den Kronprinzen der Monarchie abgefeuert wurden. An der Hauswand befindet sich eine Marmortafel: 28. Juni 1914.
Aus dem Zentrum der Stadt ist der harmonische Klang von Schlittenglocken zu hören, die sich nähern. Und jetzt sieht man auch den Schlitten, der zum Flussufer abbiegt, das leichte, kleine Fahrzeug gezogen von kleinen Pferden, die von Dampf umgeben sind. Im schwachen Licht der Straßenlaterne ahne ich die Konturen einer zierlichen Frau, in ihren Pelz gehüllt, und neben ihr die Silhouette eines Mannes. Die Vision entschwindet mit schnellen Hufschlägen. Der Schlitten mit den beiden Liebenden ist bereits um die Ecke gebogen. Der Glockenklang verstummt, und ich stehe allein am Flussufer unterhalb einer Marmortafel, die an den Beginn einer Welttragödie erinnert.
77.
Sonntag, 16. Januar 1916
Florence Farmborough erlebt in der Gegend von Tjertovitse einen Überfall
Die Kälte und die heftigen Schneefälle sind ihre wichtigsten Verbündeten. Die deutschen und die russischen Armeen liegen in ihren hektisch ausgehobenen Schützengräben und überfüllten Bunkerräumen und rühren sich nicht. Florence und die anderen in ihrer Lazaretteinheit haben nicht viel zu tun. Ihre Patienten leiden meist an Erfrierungen oder wurden von der Kugel eines Heckenschützen getroffen, jenen Spezialisten der Menschenjagd, die gerade jetzt besonders aktiv sind. 2
Florence ist mit ihrem Leben durchaus zufrieden. Sie hat zehn Tage Urlaub in Moskau hinter sich. «Wonach ich mich gesehnt habe: das Licht, die Farben, die Wärme – alles war da.» Sie ist in der Oper gewesen, hat das Ballett besucht, hat sogar getanzt. Auch die stillen Abende zu Hause bei der Familie mit weichen Kissen, Klavierspiel und Gesang waren ein ungetrübter Genuss, aber nach einiger Zeit hatte sie doch eine gewisse Rastlosigkeit überkommen. Irgendetwas fehlte:
Allmählich wurde mir klar, dass es ein großer Widerspruch ist, glücklich zu sein, während die Welt unglücklich ist, zu lachen, während andere leiden. Tatsächlich war es unmöglich. Ich begriff, dass mein Glück in meiner Pflicht lag, und als Krankenschwester beim Roten Kreuz wusste ich, wo sie auf mich wartete.
Schließlich hatte sie die Tage gezählt, bis sie ihre Uniform wieder anziehen und an die Front zurückkehren konnte.
Florence ist nicht die Einzige, die gut gelaunt ist. Die Kampfmoral ist einigermaßen wiederhergestellt nach dem langen Rückzug im Sommer und Herbst. Das Patt der letzten Monate hat es den Divisionen ermöglicht, ihre Reihen mit neuen Leuten, den Tross mit neuen Vorräten und die Arsenale mit neuen Waffen aufzufüllen. Die Armee des Zaren steht jetzt mit etwa zwei Millionen Mann an der Front, und fast jeder hat ein eigenes Gewehr, was als ungewöhnlich üppig gilt. 3 Der Mangel an Granaten, von dem im vergangenen Jahr ständig die Rede war, ist jetzt behoben. Für
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