Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
Männern, deren Körper unversehrt sind, deren Verstand aber offenbar gelitten hat. In einem Bett rechts von D’Aquila liegt ein junger Mann, der sich alle zehn Minuten, Tag und Nacht, aufrichtet und sein Kissen nach Läusen absucht. Im gleichen Saal ist ein Mann untergebracht, der glaubt, immer noch an der Front zu sein, der aus dem Bett rollt, «Avanti Savoia!» brüllt, sich auf dem kalten Fußboden windet und vor Phantomkugeln in Deckung geht, vor und zurück, bis er ohnmächtig wird – er liegt bewusstlos da, bis der nächste Anfall beginnt. In Ermangelung eines besseren Ausdrucks nennt man dieses Symptom «Granatenschock» oder «Kriegszittern».
D’Aquila hat alles verfolgt und ist entsetzt. Es hat ihn in seiner festen Überzeugung bestärkt, dass er den richtig großen Wahnsinn, den Krieg, nicht nur stoppen muss, sondern auch kann . Eines Nachts hatte er einen prophetischen Traum. Vor dem Lazarett sah er zwei Gruppen von Kämpfenden aufeinander stoßen, worauf er hinausging und sich zwischen sie stellte:
Mit erhobenem Arm signalisierte ich den Soldaten, dass sie aufhören sollten zu schießen. Als Nächstes spürte ich einen scharfen Schmerz in meiner rechten Seite, wo mich eine feindliche Kugel getroffen hatte. Aber ich wankte nicht einmal. Ganz ruhig zog ich mit den Fingern die Kugel heraus und hielt sie in die Höhe, um den Kämpfenden zu zeigen, dass ich unverwundbar war. Das Schießen hörte sogleich auf, die Männer warfen ihre Waffen auf den Boden, umarmten einander und riefen: «Der Krieg ist aus!»
D’Aquila betrachtet sich wirklich als Propheten und diskutiert nicht ohne Scharfsinn mit Ärzten und Geistlichen. Sie nennen ihn wahnsinnig, aber ist es nicht eigentlich die Welt, die wahnsinnig geworden ist? Vielleicht hört es sich nach Hokuspokus an, wenn er sagt, dass er den Krieg stoppen will (er allein, ein unbekannter Korporal), aber einer muss ja anfangen, oder? So wandert er in seinem Morgenrock umher, predigt und debattiert. Er wittert Verschwörungen. Er glaubt, heimliche Botschaften einer höheren Macht in seinen Hosentaschen gefunden zu haben.
Hauptmann Bianchi ist peinlich berührt, spielt an seiner Brille, beruft sich auf Befehle seiner Vorgesetzten. D’Aquila erklärt es ihm noch einmal: Die Welt, nicht er ist wahnsinnig. Er analysiert, prophezeit, redet: «Hat nicht Christus gesagt, dass wir unsere Feinde lieben sollen?» Der Hauptmann hört geduldig zu, schüttelt ihm dann die Hand, wünscht ihm viel Glück und begleitet ihn hinaus auf den Hof. Dort wartet ein Krankenwagen mit laufendem Motor. Als D’Aquila einsteigt, fängt der Motor an zu stottern. Siehe da, noch ein Zeichen des Himmels!
Schließlich bekommen der Fahrer und ein Mechaniker das Auto in Gang. In rasendem Tempo fahren sie durch Udine, in Richtung San Osvaldo. Der Morgen ist kalt und klar.
80.
Ein Tag im Februar 1916
Pál Kelemen beobachtet einen Transport auf einer Bergstraße in Montenegro
Montenegro, noch ein Feind der Mittelmächte, wenn auch vielleicht nicht der wichtigste, ist also geschlagen. Pál Kelemen und seine Husaren haben an den Operationen teilgenommen, auch diesmal ohne nennenswerte Kämpfe erlebt zu haben. Jetzt gehen sie wieder den alten, wohlbekannten Beschäftigungen nach: Straßenpatrouillen und Wachdienst. Er notiert in seinem Journal:
Das Generalhauptquartier wird zurzeit verlegt. Da die Eisenbahnbrücke noch nicht repariert wurde, wird der Versorgungsdienst zwischen den beiden Stationen mit Hilfe von Motorlastwagen durchgeführt. Obwohl nicht genügend Transportmittel vorhanden sind, um die fürs tägliche Leben benötigten Nahrungsmittelvorräte heranzuschaffen, sind alle Fahrzeuge requiriert worden, um den Umzug des Hauptquartiers zu unterstützen.
Kolonnen von Lastwagen schlängeln sich über die Berge, voll beladen mit Champagnerkisten, Betten mit Sprungfedermatratzen, Stehlampen, spezieller Küchenausstattung und Kisten voller Delikatessen. Die Truppen bekommen jetzt ein Drittel ihrer normalen Ration. Die Infanterie an der Front hat vier Tage lang von Brotstücken leben müssen, aber die Messe der Stabsoffiziere serviert wie üblich Vier-Gänge-Menüs.
81.
Samstag, 5. Februar 1916
Olive King freut sich auf einen freien Tag in Saloniki
Sie teilt das Zelt mit drei anderen Frauen. Morgens bereiten sie sich auf einem kleinen tragbaren britischen Feldkocher, der mit Metatabletten betrieben wird und ziemlich schlecht funktioniert, ihr Frühstück. Doch zum
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